[128/129/130]
201
viel ist allerdings richtig und hier ausdrücklich zu betonen: daß die
Tugendlehre jener Punkt sei, wo die Sittenlehre an die Seelenlehre
anknüpft. Denn die Tüchtigkeit, den Vorgang der Wiederherstel-
lung zu verwirklichen, ist beim einzelnen Menschen an die seeli-
sche Beschaffenheit gebunden. Ist z. B. die Erlangung des religiösen
Gutes das Ziel der Wiederherstellung, so ist Glaubensstärke, Fröm-
migkeit, Gottesliebe jene Tüchtigkeit, Tugend, jene s e e l i s c h e
Haltung, durch die allein das Gut erlangt werden kann. Anders
freilich bei den gesellschaftlichen Gebilden; wenn der Staat sich
mit Religion erfüllen soll, so bedürfen wohl seine Glieder, die Bür-
ger, dazu der seelischen Voraussetzungen und Beschaffenheiten, wel-
che die Tugend der Frömmigkeit verlangt; er selbst aber bedarf
dazu der organisatorischen, rechtlichen Voraussetzungen und Be-
schaffenheiten, also nicht seelischer, sondern staatlicher Tauglich-
keit: des rechten Verhältnisses von Staat und Kirche (moderner-
weise z. B. eines Konkordates). Den V o r r a n g in diesem Ver-
hältnisse hat aber allein das Gut, nicht die seelische noch die orga-
nisatorische Beschaffenheit. Die Tugend kann zwar nur auf dem
Grund und Boden der seelischen Tauglichkeit sich entwickeln; daß
sie aber eine „sittliche Tugend“ sei und nicht bloß ein seelischer
Vorgang (wie Denken, Gestalten, Wollen), kommt daher, daß es
sich dabei nicht um einen autarken, sondern um einen solchen Vor-
gang handelt, der durch ein objektives, überpersönliches Gut, das
Vollkommenheitsgut, geleitet ist, ein Gut, welches aber nur in der
Gesellschaft zur Erscheinung kommt
1
.
E.
Die P f l i c h t u n d d a s s i t t l i c h e A p r i o r i .
D a s S i t t e n g e s e t z
Kant und ihm folgend der ältere Fichte
2
stellten den Pflicht-
begriff in die Mitte der Sittenlehre; viele Vertreter des deutschen
1
Eine weitere Behandlung der Tugendlehre folgt im Zusammenhange mit
der G ü t e r t a f e l , unten S. 220 ff., und mit der G e z w e i u n g , unten S. 209 ff.
2
Vgl. Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre, 1812 (= Werke,
Auswahl in 6 Bänden, herausgegeben und eingeleitet von Fritz Medicus, Bd VI =
Philosophische Bibliothek, Bd 132), Leipzig 1922, S. 39, 53 f. und öfter.