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viel ist allerdings richtig und hier ausdrücklich zu betonen: daß die

Tugendlehre jener Punkt sei, wo die Sittenlehre an die Seelenlehre

anknüpft. Denn die Tüchtigkeit, den Vorgang der Wiederherstel-

lung zu verwirklichen, ist beim einzelnen Menschen an die seeli-

sche Beschaffenheit gebunden. Ist z. B. die Erlangung des religiösen

Gutes das Ziel der Wiederherstellung, so ist Glaubensstärke, Fröm-

migkeit, Gottesliebe jene Tüchtigkeit, Tugend, jene s e e l i s c h e

Haltung, durch die allein das Gut erlangt werden kann. Anders

freilich bei den gesellschaftlichen Gebilden; wenn der Staat sich

mit Religion erfüllen soll, so bedürfen wohl seine Glieder, die Bür-

ger, dazu der seelischen Voraussetzungen und Beschaffenheiten, wel-

che die Tugend der Frömmigkeit verlangt; er selbst aber bedarf

dazu der organisatorischen, rechtlichen Voraussetzungen und Be-

schaffenheiten, also nicht seelischer, sondern staatlicher Tauglich-

keit: des rechten Verhältnisses von Staat und Kirche (moderner-

weise z. B. eines Konkordates). Den V o r r a n g in diesem Ver-

hältnisse hat aber allein das Gut, nicht die seelische noch die orga-

nisatorische Beschaffenheit. Die Tugend kann zwar nur auf dem

Grund und Boden der seelischen Tauglichkeit sich entwickeln; daß

sie aber eine „sittliche Tugend“ sei und nicht bloß ein seelischer

Vorgang (wie Denken, Gestalten, Wollen), kommt daher, daß es

sich dabei nicht um einen autarken, sondern um einen solchen Vor-

gang handelt, der durch ein objektives, überpersönliches Gut, das

Vollkommenheitsgut, geleitet ist, ein Gut, welches aber nur in der

Gesellschaft zur Erscheinung kommt

1

.

E.

Die P f l i c h t u n d d a s s i t t l i c h e A p r i o r i .

D a s S i t t e n g e s e t z

Kant und ihm folgend der ältere Fichte

2

stellten den Pflicht-

begriff in die Mitte der Sittenlehre; viele Vertreter des deutschen

1

Eine weitere Behandlung der Tugendlehre folgt im Zusammenhange mit

der G ü t e r t a f e l , unten S. 220 ff., und mit der G e z w e i u n g , unten S. 209 ff.

2

Vgl. Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre, 1812 (= Werke,

Auswahl in 6 Bänden, herausgegeben und eingeleitet von Fritz Medicus, Bd VI =

Philosophische Bibliothek, Bd 132), Leipzig 1922, S. 39, 53 f. und öfter.