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Idealismus
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und der größte Teil der neueren Sittenlehre
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/ räu-
men dem Pflichtbegriff eine beherrschende Stelle im Begriffsgebäude
der Sittenlehre ein.
K a n t erklärte die Pflicht als die vernünftige, die „objektive
Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit“
3
. Daher bei
ihm der Gegensatz von Pflicht und Neigung. „Pflicht! Du erhabener
großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei
sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch
auch nicht drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte
und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz
aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch
wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) er-
wirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich bei
ihm entgegenwirken
4
.“
Wir müssen aber die grundlegende Stellung des Pflichtbegriffes,
wie sie K a n t u n d F i c h t e fordern, leugnen. Nur in einer sub-
jektivistischen Sittenlehre, niemals in einer objektivistischen, onto-
logisch und soziologisch begründeten kann der Pflichtbegriff im
1
Vgl. Schleiermacher (siehe unten S. 218); Johann Ulrich Wirth: System der
speculativen Ethik, 2 Bde, Heilbronn 2841 f.; Immanuel Hermann Fichte: System
der Ethik, 3 Bde, Leipzig 1850 ff. (entwickelt auch eine Güter- und Tugendlehre);
Hermann Lotze entwickelt den Wertbegriff.
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Von den E m p i r i s t e n nenne ich nur: Friedrich Jodl: Allgemeine Ethik,
herausgegeben von Wilhelm Börner, 2. Aufl., Stuttgart 1928; Wilhelm Wundt:
Ethik, 4. Aufl., Stuttgart 1922; Ernst Laas: Idealismus und Positivismus, Berlin
2879 ff. (besonders zweiter Teil); Harald Höfding: Ethik, übersetzt von F. Ben-
dixen, 2. Aufl., Leipzig 2902; Albert Schäffle: Bau und Leben des sozialen Körpers,
2. Aufl., Tübingen 2896.
Von den N e u k a n t i a n e r n : Wilhelm Windelband: Geschichte und Natur-
wissenschaft, in: Präludien, Bd 2, 4. Aufl., Tübingen 1921, S. 164 ff.; Hermann
Cohen: System der Philosophie, Teil 2: Ethik des reinen Willens, 2. Aufl., Berlin
1907
Eine Ausnahme macht Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die
materielle Wertethik, Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Persona-
lismus, Teil 2, Halle 2923, welcher nach Lotzes Vorgang systematisch an die
Stelle des formalen Pflichtbegriffes den Wertbegriff in der Ethik setzte und unter
den Modernen wieder als erster eine materielle Wertethik anstrebte. Ihm folgt
zum Teile Nicolai Hartmann.
3
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= Kants Werke,
herausgegeben von der Kgl. preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd 4),
Berlin 2908, S. 439.
4
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (= Kants Werke, Bd 5),
S. 86.