212
[138/139]
Tugend, um die Grundtugend — die gibt es ebensowenig wie das
allgemeine Sittengesetz (sie müßte denn wie dieses nur formal sein).
„Tugendgrund“ bedeutet mehr. Wie Meister Eckehart in seiner
Lehre vom Seelenfünklein sagt: Gott liebt sich in den Kreaturen
1
;
so gilt auch hier, daß sich im Tugendgrunde das Ganze vermittels
der Form der Hingebung und Mittewendigkeit in den Einzelnen
selbst liebt und seine Vervollkommnung selbst einleitet. Er ist
gleichsam die Einfallspforte des Ganzen, nur im Einzelnen (ver-
mittels dessen Vita propria) den sittlichen Vorgang einleiten zu
können.
Liebe ist daher wohl ein Element aller Tugend, aber nicht die
„allgemeinste Tugend“; ebensowenig ist es die subjektive Gerech-
tigkeit. Liebe ist vor aller Tugend und soll in der Ausübung
konkreter Art erst zur bestimmten Tugend, das heißt zur Tüchtig-
keit der Aneignung des Gutes werden. Sie ist vor aller Tugend, weil
sie in der gliedhaften Art des Seins des Einzelnen beschlossen liegt.
In der Liebe findet sich der Einzelne im andern. In der Liebe findet
und empfindet der Einzelne die Einerleiheit des andern mit sich
selbst, im Wurzelgrunde der Ganzheit. Und in der Mittewendigkeit
als der richtigen Eingegliedertheit sodann liegt beschlossen die sach-
lich geforderte, die objektive Gerechtigkeit — vor aller Aus-
übung als Tugend der subjektiven Gerechtigkeit.
Mithin bilden Hingebung oder Liebe und Mittewendigkeit oder
objektive Gerechtigkeit den Mutterboden oder Grund aller Tugen-
den.
Erst wenn die Liebe Liebe zu einem bestimmten Gut wird, zur
Gottesliebe, Wahrheitsliebe, Schönheitsliebe, Gemeinschaftsliebe,
Gattenliebe, Geschöpfesliebe, Naturliebe; erst wenn die Gerechtig-
keit zu Gerechtigkeit in bestimmter Eingliederung wird: des Staa-
tes, der Familie, der Schule, der Wirtschaftskörper, also staatliche
Gerechtigkeit, häusliche, erzieherische, wirtschaftliche — erst dann
werden Liebe und Gerechtigkeit zu konkreten Tugenden. Nur als
Glied eines Amtes, eines Betriebes, einer Familie, einer Schule, einer
Gedanken- und Gestaltenwelt, eines Freundeskreises und so fort
kann die Liebe und die Mittewendigkeit eine bestimmte Konkre-
tion finden. / Erst in solcher Konkretion sind sie nicht mehr Tu-
1
Vgl. Meister Eckhart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857,
S. 180, Zeile 2 ff.