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1.
P f l i c h t i s t v o r T u g e n d . —Dieser Satz könnte inso-
ferne überraschen, als wir bisher die Tugend vor der Pflicht behan-
delten und wohl eine eigentliche Tugendlehre, nicht aber eine be-
sondere Pflichtenlehre da- / neben anerkannten. Soferne aber die
Pflicht nichts ist als das Gesollte, die Verbindlichkeit zur Tugend, so
folgt dennoch, daß diese Verbindlichkeit vor dem ist, was diese Ver-
bindlichkeit erfüllt, vor der ihr gerecht werdenden Tüchtigkeit oder
Tugend („Sollen ist vor Sein“
1
). — Die Verbindlichkeit oder
Pflicht leiteten wir daraus ab, daß der einzelne Mensch als sub-
jektiver Geist Glied des Gesamtganzen, also des objektiven Geistes
ist. Daher gilt:
2.
O b j e k t i v e r G e i s t i s t v o r s u b j e k t i v e m G e i s t ,
und zwar nach Maßgabe der Gliedhaftigkeit des subjektiven Gei-
stes. — Dasselbe gilt für das Gebilde: das Gesamtganze des objek-
tiven Geistes ist vor seinem Unterganzen, den gesellschaftlichen
Gebilden; denn diese sind Glieder des Gesamtganzen. — Daß der
objektive Geist vor dem subjektiven Geist und vor dem besonde-
ren gesellschaftlichen Gebilde ist, entspricht auch dem Vorrange der
Pflicht vor der Tugend, da sich die Verbindlichkeit zur Tugend aus
der Gliedhaftigkeit des subjektiven im objektiven Geiste ableitet.
— Damit ist aber das Verhältnis von Tugend und Pflicht dennoch
nicht durchaus erschöpft; vielmehr gilt:
3.
Der S a t z „ G u t i s t v o r T u g e n d “ ü b e r h ö h t
d e n S a t z „ P f l i c h t i s t v o r T u g e n d “ ; denn der Guts-
begriff, als der Begriff des Vollkommenen, überhöht den Pflicht-
begriff, der nur die Gültigkeit (Verbindlichkeit) der Vervollkomm-
nung ausspricht. Da der Vorrang des Guten den der Pflicht über-
höht, ist für das Verständnis der Stellung des Tugendbegriffes die-
ser Vorrang, nämlich des Gutes, entscheidend, nicht der nur ver-
hältnismäßige und gleichsam zwischenweilige des Pflichtbegriffes.
4.
Die V o r r a n g v e r h ä l t n i s s e
d e r
s i t t l i c h e n
G ü t e r w e l t s i n d m a ß g e b e n d f ü r j e n e d e r T u -
g e n d e n . Die Vorrangverhältnisse der Güterwelt wurden früher
erklärt
2
. Für sie sind maßgebend jene Vorrangverhältnisse, welche
die Zergliederung des objektiven Geistes in der Gesellschaftslehre
ergibt. Wir heben daraus nur einige Sätze hervor:
1
Siehe oben S. 182 ff.
2
Siehe oben S. 192 f. und 228
ff