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aufnehmenden; das höhere Gut Führungsgut gegenüber dem niedri-
gen; das ursprüngliche Gut Führungsgut gegenüber dem Heilsgute;
die Mitte führend gegenüber dem Umkreise.
Ihre volle geschichtliche Bedeutung erhält die Führung durch die
überall zu beobachtende Grundtatsache der sehr großen Unter-
schiede in der Schöpferkraft der Menschen.
Den ungeheuren Abstand zwischen Führer und Geführten in der
Gezweiung kann uns Goethes Wort, das die Gezweiung so lebendig
schildert, am deutlichsten veranschaulichen: „Was war’ ich ohne
dich, Freund Publikum — All’ mein Gedanke Selbstgespräch — All’
mein Empfinden stumm." Welch ein Abstand zwischen dem ge-
waltigen Schöpfergeist Goethe und der schwachen Menge seines auf-
nehmenden „Publikums“, mit der er doch in Gezweiung sein muß.
Alle Menschen sind nicht in annähernd gleicher Weise Glieder des
objektiven Geistes und der Gezweiung. Sie sind zwar alle darin ein-
ander / gleich, daß sie Menschen und nicht Steine; sowie darin, daß
sie Glieder gesellschaftlicher Gezweiung und nicht des Schwerefeldes
sind. Aber über diese Gleichheit hinaus, die in den letzten Grund-
lagen der Natur der Gattung „Mensch“ verankert ist, bestehen un-
geheure Unterschiede, und sie sind es, die zu den größten Spann-
kräften des Gesellschaftslebens gehören. Durch diese Spannkräfte
hindurch nimmt die Geschichte vornehmlich ihren Gang. Heute, im
Zeitalter der Massenwirtschaft, des Massenverkehrs, der Massen-
stimmrechte, der Massenbildung, der Massengleichmacherei jeder
Art, vergißt man die tiefen, geheimnisvollen Unterschiede zwischen
den Menschen als Gliedern der Kultur nur allzuleicht und vergißt
damit das Wichtigste und Größte der Gesellschaft und der Ge-
schichte: den Schöpfergeist, den hervorbringenden Führer.
Ohne den großen Schöpfergeist wäre nichts da in der Geschichte,
in der gesamten Kultur; lediglich aus der Menge heraus könnte nur
Trägheit, Stockung, dumpfe Sinnlichkeit, Kargheit, Neid und Ent-
artung geboren werden. Der Schöpfergeist ist die geschichtsbildende
Kraft, deren sich der objektive Geist bedient, er ist der wahre
Geisterkönig.
Platon, Hegel, Fichte, Schelling, dem späteren Taine, dem späte-
ren Nietzsche (beide waren anfänglich zu materialistisch eingestellt),
Carlyle gebührt das Verdienst, die entscheidende Rolle des großen
schöpferischen Führers erkannt und mächtig hervorgehoben zu