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Den größten Eindruck machte
Jean Jacques Rousseau
mit seiner
von Locke ausgehenden Lehre vom Naturzustande.
Schriften: „Du contrat social“ (1762), „Emile, ou de l’éducation“,
(1762). „Der Mensch ist frei geboren, und dennoch liegt er in Banden.“
Der Mensch ist von Natur gut, die Kultur verdirbt ihn. Rückkehr zum
Naturzustande ist notwendig. Von der Erziehung des Menschen brauchen
nur Irrtum und Laster entfernt zu werden. „Überall“, sagt Rousseau in
seinem „Emile“, „wo Menschen geboren werden, kann man das aus ihnen
machen, was ich vorzeichne...“ Rousseau glaubt an unbedingte Vervoll-
kommnungsfähigkeit der Menschen (später die Grundlage sozialistischer
Utopien, auch der marxistischen). Den Staat faßt er naturrechtlich, jedoch
widerspricht seinem Individualismus der Begriff eines „Gesamtwillens“
(volonte generale), welcher im Gegensatze zum Begriffe des „Willens
aller Einzelnen“ (volonte de tous), steht, ebenso eine von ihm geforderte
verbindliche Staatsreligion. — Rousseau glänzt als Schriftsteller, ist aber
voller Widersprüche. Unrichtig ist seine Ansicht, der Gedanke zerstöre
das Gefühl. Erhebung des Ge- / fühls zur Bewußtheit ist vielmehr ein
Gipfel des Geistes. Rousseau war in gewisser Hinsicht ein amoralischer
Mensch. Er gab seine Kinder ins Findelhaus; sein Kulturhaß entsprang
zum Teil krankhafter Minderwertigkeit. Die Schriften Rousseaus trugen
zum Ausbruche der Französischen Revolution (1789) nicht wenig bei. Die
führenden Revolutionäre, besonders R o b e s p i e r r e , waren seine Schü-
ler. Sein Einfluß auf die gesamte Bildung Europas war tief, insbesondere
indem er infolge eines i r r a t i o n a l e n Elementes, der Hinwendung zur
Natur und zum Gefühle, schon eine Abwendung vom reinen Rationalis-
mus der Aufklärung einleitet.
Im Vorstehenden wurde nur von dem
individualistischen Natur-
recht
der neueren Zeit geredet. Es gibt aber zweierlei Naturrecht.
Neben dem individualistischen gibt es auch ein
überindividuelles
oder göttliches Naturrecht
(δίχαιον φύσει, lex naturalis — lex di-
vina, jus divinum, göttliches Recht), welches die göttliche Welt-,
Sitten- und Rechtsordnung vor die Sittlichkeit und das Recht des
Einzelnen, des Subjektes, stellt (das δίχαιον θέσει:, das „gesetzte“
Recht der Sophisten). Deutlich erklärt ein Wort Heraklits das
Wesen des göttlichen Naturrechtes: „Und es nähren sich alle mensch-
lichen Gesetze von dem einen göttlichen“. Das göttliche oder über-
individuelle Naturrecht vertreten unter anderem: Platon, Aristote-
les, Thomas von Aquino, die Romantik, Hegel, Baader. Nach Pla-
ton ist das Weltgesetz unmittelbar Ausfluß des göttlichen Willens
(der lex divina), das den Menschen eingeborene sittliche Gesetz ist
ein Bestandteil jenes; davon ist das positive, geschichtliche Recht
erst abgeleitet. — Die „Natürlichkeit“ des Rechtes bedeutet für das