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Mutter und Kind, Lehrer und Schüler, Mann und Frau, Freund und
Freund, Denker und Kritiker, findet ein Entstehen von Kenntnis-
sen, Gefühlen, Geisteskräften statt, das nicht als mechanischer Aus-
tausch, sondern g e g e n s e i t i g auferweckend, das heißt schöpfe-
risch zu denken ist. Geistige Gemeinschaft oder Gezweiung ist der
eigentliche Lebensquell und die Lebensluft des Einzelnen. So ange-
sehen, ergibt sich nun „Gesellschaft“ als ein reales Etwas: jener le-
bendige Widerhall der Geister, jener gegenseitige Zusammenhang
vieler, in welchem der Einzelne als geistiges Wesen s i c h e r s t
g e b i e r t und zu dem wird, was er wirklich ist, eine vernünftige,
ausgebildete Persönlichkeit. „Gesellschaft“ ist danach nicht mehr
eine bloße Zusammengesetztheit von (absolut selbsthaften) Ein-
zelnen, eine nachträgliche Verbindung (in die sie als schon / fertige
einträten); sondern Gesellschaft ist jetzt die Lebensbedingung des
Einzelnen und somit notwendig ein g e i s t i g - s i t t l i c h e s
G e b i l d e , sie ist nicht bloß ein nützliches, „utilitarisches“, sum-
matives Gebilde. Die Gesellschaft steht über den Einzelnen, da sie
deren schöpferische L e b e n s f o r m ist. Die Einzelnen sind nicht
mehr allein in sich selbst gegründete Existenzen, sondern ihre
Werdekraft liegt in ihrem geistigen Zusammenhange, im Ganzen.
Daher der Name Universalismus oder Ganzheitslehre.
Die grundlegende Bedeutung des Gegensatzes „individualistisch—uni-
versalistisch“ wird heute zu Unrecht geleugnet. Es ist theoretisch und
praktisch in der Volkswirtschaftslehre entscheidend, ob man auf dem
Boden der individualistischen oder universalistischen Auffassung der Ge-
sellschaft und Wirtschaft steht, denn je nachdem werden die Wirtschafts-
erscheinungen vom Einzelnen oder vom Ganzen her erklärt: ob subjek-
tiver Eigennutz oder objektive Eingliederung; ob subjektiver Wert oder
überindividueller (aus dem Zusammenhange der Leistungen folgender)
Wert und Preis; ob die Wirtschaftserscheinungen nach dem Schema der
Preisbildung zu erklären seien („Preis ist vor Leistung“) oder als Glieder-
bau von Leistungen („Leistung ist vor Preis“); ob Freihandel oder Schutz-
zoll; ob freier Wettbewerb oder Bindung; ob freier Arbeitsvertrag oder
Kollektivvertrag; ob Selbsthilfe oder Sozialpolitik; ob Steuer nach dem
Entgeltsgrundsatze oder nach der organischen Leistungsfähigkeit; ob
„automatische“ (mechanische) Ursächlichkeit die Wirtschaftserscheinungen
bestimmt, oder sinnvoller Ganzheitszusammenhang (nach Gliedhaftigkeit)
— diese und andere Grundfragen sind nicht „politische“ Fragen, noch
„Weltanschauungsfragen“, sondern hängen von der individualistischen
oder universalistischen Einstellung der zergliedernden Untersuchung ab.
Je nach dem individualistischen oder universalistischen Standpunkte der
Untersuchung wird die Gesamtauffassung der Wirtschaft, wird das Ver-
fahren ihrer Erforschung, wird die Fassung der Hauptbegriffe anders sein,