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„Nützlichkeit“, erfüllt, daher vor allem auch die g e i s t i g e A r -
b e i t jeder Art.
Die Physiokratie stellte, wirtschaftsgeschichtlich gesehen, zunächst
einen Rückschlag der vernachlässigten Landwirtschaft gegen die vom
Merkantilismus geförderte Industrie dar. Aber auch geistesgeschichtlich
ist sie ein Gegner des Merkantilismus. Dieser kam seinerzeit mit den
Landesfürsten im Kampf gegen die feudalen Stände zum Siege; er war
daher absolutistisch und antiindividualistisch, trotz einer gewissen natur-
rechtlichen Grundlage. Die Physiokratie dagegen verkündete den Indi-
vidualismus endlich auch auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiete, nach-
dem er im allgemeinen Geistesleben durch die Aufklärungsphilosophie
und das Naturrecht längst zur Herrschaft gelangt war.
In der Zeit allgemeiner Rohstoffnot während und nach den beiden
Weltkriegen gewann die physiokratische Hochschätzung der Rohstoff-
erzeugung und der Landwirtschaft wieder erhöhte Bedeutung.
C.
Die physiokratische Schule
Um Quesnay sammelte sich bald eine Schar treuer Anhänger, die sich
den Namen „Économistes“ beilegten. Die Bezeichnung Physiokraten ist
erst später entstanden und rührt von D u p o n t d e N e m o u r s , einem
Schüler Quesnays, her.
Die Schule, anfangs von der Regierung mit scheelen Augen angesehen,
erlangte bald großen Einfluß und kam gewissermaßen an/ das Staats-
ruder, denn ihr bedeutendstes Mitglied, Anne Robert J a c q u e s T u r -
g o t („Gedanken über die Entstehung und Verteilung des Reichtums“,
1769; deutsch: 3. Aufl., Jena 1924) wurde 1774 Finanzminister. Der älteste
Schüler Quesnays und gleichzeitig das politische Haupt der physiokra-
tischen Schule war der Marquis V i c t o r v o n M i r a b e a u , der so-
genannte ältere Mirabeau („Philosophie rurale“, 1764). Bei ihm nimmt der
Laissez-faire-Grundsatz eine viel beherrschendere Stellung ein als bei
Quesnay selbst, und er strebte auch eine radikalere und rücksichtslosere
Verwirklichung der reinen Grundsätze des Systems an als dieser. Denn
für Quesnay, der immer mit der lebendigen Wirklichkeit in Fühlung
blieb, galt der „ordre naturel“ nur als letztes Ziel und Ideal, dem der
„ordre positif“ nur langsam angenähert werden kann. — Weiter sind als
Anhänger der Physiokratie M e r c i e r d e l a R i v i è r e („L’ordre na-
turel“, 1767), B e a u d e a u , D u p o n t , auch der Philosoph C o n d i l l a c
neben anderen anzuführen. Eine Sammlung ihrer Schriften unter dem
Titel „Oeuvres des Physiocrates“, 1846, und „Oeuvres de Turgot“, 1846
herausgegeben von Daire, Paris.
Die physiokratische Lehre verbreitete sich auch bald im Auslande,
nur in England vermochte sie nicht Fuß zu fassen. Um so größer war
ihr Einfluß dagegen in Deutschland, wo der Markgraf K a r l F r i e d r i c h
v o n B a d e n mit Hilfe des bedeutsamsten deutschen Physiokraten
S c h l e t t w e i n Versuche machte, namentlich die physiokratische Steuer-