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lehre praktisch zu verwirklichen, Versuche, die aber fehlschlugen. Ähn-
lich erging es dem Kaiser L e o p o l d II., der im Großherzogtum Toskana
weitgehende physiokratische Reformen, insbesondere die Grundsteuer,
durchzuführen versuchte; desgleichen Kaiser J o s e p h II., der eigent-
lich Merkantilist, daneben aber in widersprechender Weise Physiokrat
war. Seine Maßnahmen zur Hebung des Bauernstandes (Aufhebung der
Leibeigenschaft 1781/82) sowie seine Steuerreformen (Grundsteuer 1775)
waren von physiokratischem Geiste getragen. Auch K a t h a r i n a II.
von Rußland und die meisten aufgeklärten Monarchen jener Zeit waren
mehr oder weniger Anhänger physiokratischer Lehren. — Als weitere
deutsche Physiokraten sind zu nennen: der Baseler Staatsschreiber
I s a a k I s e l i n , S c h m a l z und der Halbfranzose M a u v i l l o n ,
durch den der Name physiokratisches System eigentlich erst eingebür-
gert wurde. — Auch in Italien, Polen, Schweden und anderen Ländern
gewann die physiokratische Lehre Anhänger.
Nach Quesnays Tode (1774) entstanden in Frankreich bald Zwistig-
keiten in der Schule, namentlich durch Condillac, der die Fruchtbarkeit
von Handel und Industrie behauptete. Die innerlich bereits uneinige
Schule wurde durch Turgots Sturz (1776) gesprengt. Dieser Sturz kam,
weil Turgot die zerrütteten Staatsfinanzen nicht in Ordnung zu bringen
vermochte sowie infolge seiner schroffen, zum Teil doktrinären Maß-
regeln, z. B. der Einführung der Gewerbefreiheit durch Aufhebung der
Zünfte (später zurückgenommen).
Unmittelbar nachher aber traten andere Dinge auf den Plan, die den
physiokratischen Lehrbegriff in den Hintergrund drängten: in der Politik
die große französische Revolution, in der Wirtschaftswissenschaft das
Lehrgebäude des Adam Smith.
/
VII. Die durchgebildeten
individualistischen
oder sogenannten klassischen Lehrgebäude
A.
Das Arbeits- oder Industriesystem von Adam Smith
England war als klassisches Land des Empirismus und als ältestes
Großgewerbeland der Boden, auf dem am besten die Ausbildung
der individualistischen Volkswirtschaftslehre stattfinden konnte.
Bald sollten dort durch Einführung der Spinnmaschine (erfunden
von Wyatt 1738, Lewis Paul 1741, Arkwright 1769), der Dampf-
maschine (Watt 1765, 1770), später des mechanischen Webstuhls
(Cartwright 1785, Jacquard 1802) und ähnliche Vorgänge im Ge-
füge der gewerblichen Erzeugung Veränderungen vor sich gehen,
die in dem neuen, dem i n d i v i d u a l i s t i s c h e n Z e i t a l t e r
den Schwerpunkt mehr und mehr auf die Seite des Großgewerbes
verschoben und dadurch erst jenes regere, vielfältigere und un-
durchsichtigere Leben der „freien Verkehrswirtschaft“ schufen, in