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2. Der M a t e r i a l i s m u s g e s c h i c h t l i c h b e t r a c h t e t

Geschichtlich kann man zwei Hauptausprägungen des Materialis-

mus unterscheiden. Die eine ist die ontologische, die von der Stoff-

lichkeit der Außenwelt, die andere die biologische oder physiolo-

gische, welche von der Stofflichkeit unseres Leibes ausgeht.

D e m o k r i t (um 460—370 v. Chr.) sagte: „Alle Veränderung ist nur Ver-

bindung und Trennung von Teilen“, zuletzt kleinsten Stoffteilchen oder Atomen;

„nichts existiert als Atome und der leere Raum, alles andere ist Meinung“. „Mei-

nung“ war ihm insbesondere auch das, was wir heute die Sinnesqualitäten nennen.

„Nur in der Meinung besteht das Süße, in der Meinung das Bittere, in der Mei-

nung das Warme, das Kalte, die Farbe; in Wahrheit besteht nichts als die Be-

wegung der Atome und der leere Raum“ und daher mechanische Notwendigkeit,

naturgesetzliches Geschehen

1

.

Die neuzeitlichen Materialisten widersprechen dem nicht, halten sich aber

mehr an die Erklärung der seelischen Erscheinungen durch biologische Vor-

gänge. Nach J e a n d e l a M e t t r i e („L’homme machine“, Paris 1748) hat das

Gehirn ebenso seine Denkmuskeln, wie die Beine Muskeln zum Gehen. Nach dem

„Systeme de la Nature“

2

gibt es überall nichts als Materie und Bewegung.

Denken ist nur eine „Modifikation“ unseres Gehirns.

Die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts, J a k o b M o l e s c h o t t ,

C a r l V o g t , L u d w i g B ü c h n e r („Kraft und Stoff oder Grundzüge der

natürlichen Weltordnung“, 1834, 21. Auflage, Leipzig 1904), D a v i d F r i e d -

r i c h S t r a u ß (in seiner letzten Zeit: „Der alte und der neue Glaube“, Leip-

zig 1872), wollten ihren Materialismus naturwissenschaftlich begründen. Sie waren

ohne Ausnahme philosophische Halbwisser, die sich, ähnlich wie ihre hauptsäch-

lich französischen Vorfahren, an die physiologischen Vorbedingungen der geisti-

gen Erscheinungen hielten und diese Vorbedingungen mit artgleichen Ursachen

verwechselten. Büchner nannte den Gedanken einen „Effekt“ des Gehirns. Andere

Bilder, die man gebrauchte, erklärten den Gedanken als „Fluoreszenz des Gehirns“

oder verglichen die Absonderung des Urins durch die Niere, der Galle durch die

Leber mit Absonderung von Gedanken durch das Gehirn.

Noch tiefer als diese Materialisten standen (um die Jahrhundertwende) die

„ M o n i s t e n “ , deren Hauptführer die Naturforscher E r n s t H a e c k e l u n d

W i l h e l m O s t w a l d waren. Dieser „Monismus“, welcher die Eigenartigkeit

alles Seins behauptet, daher den Dualismus von Geist und Stoff ablehnt, ist

schließlich nichts anderes als unklarer, verschleierter Materialismus, wurzelnd im

politischen Liberalismus. Daß man „Monist“ ebenso wie „Dualist“ nur als Meta-

physiker sein könne, hatten jene Halbwisser nie verstanden.

/

Uber die himmelschreiende Widersinnigkeit jedes Materialismus ist nach dem

Gesagten keine weitere Auseinandersetzung nötig. Da alles, was in Sinnesnerv

oder Gehirn vorgeht, stets nur materielle Veränderung ist, kann von hier niemals

1

Vgl. Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd 2, 4. Aufl.,

Berlin 1922, S. 58 ff.

2

Ein Werk, das unter dem Decknamen des Marquis Victor de Mirabeau 1770

in London erschien und wahrscheinlich von B a r o n H o l b a c h und L a -

g r a n g e in Paris verfaßt wurde.