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haben zugleich Bestimmungsgründe jedes vernünftigen Wesens zu sein. Es lautet:
„Handle so, / daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemei-
nen Gesetzgebung gelten kann.“
Die Anwendung des Sittengesetzes, das heißt die Bestimmung des Willens
nicht durch Naturursachen (Lust und Unlust, Triebe), sondern durch Vernunft,
begründet die A u t o n o m i e , d i e F r e i h e i t des Individuums. Die Vernunft-
bestimmtheit des Willens kennzeichnet Kant durch das Wort: „D u k a n n s t ,
d e n n d u s o l l s t . “
Wir können diesen Gegensatz, der zugleich jenen von empiristischer und aprio-
ristischer Sittenlehre bedeutet, in folgender Übersicht klar machen.
Bestimmungsgründe des Willens:
a posteriori
(empirische Ursächlichkeit = Deter-
mination)
Naturhafte
Triebe
oder
Motive:
Lust- und Unlustgehalt der Empfin-
dungen und Vorstellungen (bestim-
men inhaltlich).
Wesen der Sittlichkeit: Höchstmaß
an Lust (Selbstsucht).
Der Wille daher: naturhaft be-
stimmt
=
Determinismus
( U n -
f r e i h e i t s l e h r e ) .
a priori
(intelligible Freiheit)
Vernunftgründe
bestimmen
das
Handeln, sind also bedingungslos gül-
tig: kategorischer Imperativ oder Sit-
tengesetz.
Wesen der Sittlichkeit: Verbind-
lichkeit
des
Sittengesetzes
oder
P f l i c h t .
Der sittliche Wille daher: gibt sich
selbst
das
Gesetz
(bestimmt
sich
durch
Vernunftgründe);
=
Autono-
mie = F r e i h e i t
d e s
W i l -
l e n s .
Kant feiert die Pflicht, deren Wurzel er im Übersinnlichen findet. „ P f l i c h t !
Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei
sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nicht drohest,
was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu be-
wegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellest, welches von selbst im Gemüte Eingang
findet... Welches ist der deiner würdige Ursprung? Und wo findet man die Wur-
zel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz aus-
schlägt. . .? Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst
(als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft,
die nur der Verstand denken kann... Es ist nichts anderes als die P e r s ö n -
l i c h k e i t , das ist die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der
ganzen Natur..
— Den Gegensatz von Sittlichkeit und Natur erklärt Kant in
folgenden hochberühmten Worten: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer
neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender
sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir. . . Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge
vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfes, das die
Materie, daraus es ward, dem Planeten ... wieder zurückgeben muß ... Der zweite
erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Per-
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Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Sämtliche Werke,
Teil 8, Leipzig 1838, S. 86 f.