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E. B e u r t e i l u n g d e s A p r i o r i s m u s a m

B e i s p i e l e d e r K a n t i s c h e n L e h r e

99

Die ungeheure Bedeutung, welche der Apriorismus durch Kant

erlangte und bis heute behauptet, fordert eine ausführlichere Prü-

fung der einzelnen Lehrbegriffe, als sie sonst dem Rahmen dieses

Buches entspräche. Auch wird eine gründliche Betrachtung der Kan-

tischen Lehre der späteren Behandlung des Idealismus zugute kom-

men.

Dem heutigen, empiristisch erzogenen Jünger der Philosophie

wird es zuerst am Herzen liegen, die Einwände des Empirismus ge-

gen den Apriorismus zu hören.

1. Der E i n w a n d d e s E m p i r i s m u s g e g e n j e d e n

A p r i o r i s m u s

lautet: Es gibt keine apriorischen Begriffe, es gibt keine „Katego-

rien“. Vielmehr sind diese nur nachträgliche Abstraktionen aus

unseren sinnlichen Anschauungen. Das angeblich reine Denken

schöpft seine Begriffe in Wahrheit aus der anschaulichen Erfahrung.

Zum Beispiel sagt F r i e d r i c h A l b e r t L a n g e , der sich sogar zu den

Neukantianern rechnet, im 1. Bande seiner „Geschichte des Materialismus“

1

über

Sokrates, indem er dabei die ganze Primitivität des Empiristen verrät: „Wir ver-

danken Sokrates das Phantom der Definitionen, welche eine eingebildete Kon-

gruenz von Wort und Sache voraussetzen, Plato die trügerische Methode, welche ...

im Abstraktesten die größte Gewißheit findet...“ „Die Sache rein theoretisch

betrachtet, war der Relativismus der Sophisten ein durchaus gesunder Fortschritt

und keineswegs das Ende der Philosophie, vielmehr erst der rechte Anfang.“ —

Ferner: „Ethischen Ursprungs ist vor allem die Teleologie ...“ (bei Sokrates)

2

.

Darauf ist zu erwidern: (a) der Apriorismus hat grundsätzlich

recht, ohne Apriori wäre keine Erkenntnis möglich. Das folgt schon

aus dem „nisi intellectus ipse“ sowie dem Gegensatze empirischer

und notwendiger Urteile. Das Apriorische, die Kategorien sind

keine nachträglichen, empirischen Abstraktionen aus der Anschau-

ung. Wie könnte z. B. Einheit und Substanz aus der bloßen Vielheit,

1

Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner

Bedeutung in der Gegenwart, Bd 1, 5. Aufl., Leipzig 1896, S. 39.

2

Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Be-

deutung in der Gegenwart, Bd

1, 5

. Aufl., Leipzig 1896, S.

133.

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