[90/91]
101
man auf den letzten Grund zurückgehen, auf dem sie beruht. Kant
sah ihn in der „Spontaneität des Bewußtseins“ und nannte deren
Wirksamkeit das „Gesetz der transzendentalen Synthesis“. Seine
Frage war, wie die vielfältigen Bewußtseinsinhalte in der Einheit,
der Identität unseres Ich verbunden seien. — Hume hat die Identi-
tät der Persönlichkeit aufgehoben und die Einheit des Bewußtseins
geleugnet. Kant sagt richtig, daß die Einheit des Bewußtseins viel-
mehr eine unerläßliche Bedingung jedes Denkens sei, daß die Vor-
stellung / „Ich . . . “ (zum Beispiel ich bin es, der hier liest, der han-
delt) jede andere Vorstellung „begleiten“ müsse. Die Grundtatsache,
sagt Kant, daß jede Vorstellung des Bewußtseins als m e i n e Vor-
stellung gewußt und dadurch zur Einheit erhoben wird, beruht auf
reiner „Synthesis“, reiner „Spontaneität“. Anstatt dieser „Einheit
der Synthesis“ oder „Einheit der Apperzeption“ könnte, sagt Kant,
ja auch bloß „eine Rhapsodie von Wahrnehmungen“ da sein
1
. (Bei
Verrückten kann dies annähernd zutreffen, gänzlich kann es nie-
mals der Fall sein.) Wäre aber eine „Rhapsodie“, dann könnte von
keinem „durchgängig verknüpften Bewußtsein“ mehr die Rede sein.
Erst die spontane Einheit, die „transzendentale Synthesis“ bringt
Bewußtsein hervor.
Die „transzendentale Synthesis“ müssen wir daher als die Urwur-
zel oder, wie Kant selbst auch sagte, als das „Radikalvermögen“ be-
zeichnen. Die Kategorien erweisen sich, von da aus gesehen, nicht
nur als „formale Bedingungen“ der Erfahrung, sondern — eine
Folgerung, die Kant nicht zog — darüber hinaus als die Urwege, die
der Verstand einschlägt, um die E i n h e i t d e s B e w u ß t -
s e i n s zu behaupten: Indem der Stoff der Wahrnehmung nach
Substanz, Ursächlichkeit, Möglichkeit, Wirklichkeit usw. gedacht
wird, betätigt sich die „transzendentale Apperzeption“, das heißt
die vorempirische Einheit des Ich; sie betätigt sich, indem damit
erst die Wahrnehmung zur d i n g l i c h e n Anschauung und die
Anschauung zum G e d a n k e n erhoben wird. Diesen großen
Sinn hat die Kategorienlehre bei Kant. Erst Fichte hat diesen Sinn,
die Selbsterzeugung der Kategorien in der Erkenntnistat, ganz ent-
1
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Original-
ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 195 (= Philo-
sophische Bibliothek, Bd 37 d).