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Der dritte wesentlichste Mangel liegt indessen in der S u b -
j e k t i v i t ä t d e s A p r i o r i , die Kant nicht wahrhaft zu
überwinden vermochte. Das gilt insoferne, als er von dem die Sub-
jektivität berichtigenden Begriff des „Ding an sich“ wegen dessen
angeblicher Unerkennbarkeit keinen genügenden Gebrauch machte;
und als er ferner seinen wichtigen Begriff des „Bewußtseins über-
haupt“, der ja auch über die Subjektivität hinausführt, da er ein
Über-Dir enthält, ebenfalls nicht zur Grundlegung des Apriori, bzw.
der spontanen „Synthesis“, benützte. — Die Subjektivität des Apri-
ori hatte entscheidende Folgen für den Natur- und Seinsbegriff,
ebenso für den Sitten- und Gesellschaftsbegriff Kantens, wo überall
das Objektive, das Über-Dir, Not leidet.
Mit der Subjektivität hängt ein letzter, schon berührter Mangel
zusammen
1
, daß nämlich das Apriori ein rein f o r m a l e s sein
solle — dem der I n h a l t (Stoff, Materie) des Erkennens gegen-
überstände
2
. Wäre aber, so müssen wir einwenden, / der Ver-
stand und die Anschauung lediglich ein Inbegriff leerer Formen und
das Mannigfaltige der Sinnenwelt lediglich ein formloser Stoff, In-
halt — wie könnten dann beide je Zusammenkommen? Das Aprio-
ri unseres Geistes muß schon einen Inhalt in sich selbst haben, um
einen Inhalt außer ihm aufzunehmen. Wir finden ihn im Wissen
vom inneren Leben in uns selbst und in anderen Geistern (das durch
Gezweiung unmittelbar erfahren wird) sowie im metaphysischen
Elemente des Bewußtseins. Und ebenso muß der von außen aufge-
nommene „Inhalt“ selbst schon eine Form haben, schon in irgend-
einem, sei es noch so vermittelten Sinne geistförmig sein, um dem
Geiste faßbar zu werden. Die Kantische Gegenüberstellung von
Form schlechthin und Inhalt schlechthin ist daher unhaltbar.
Mit dem Begriffe des bloß formalen Apriori blieb Kant hinter L e i b n i z
zurück. Leibniz sagte: „Ist denn unsere Seele für sich so leer, daß sie, abgesehen
von den draußen entlehnten Bildern, selbst gar nichts ist? ... Warum sollten wir
uns selbst nicht auch ein Stück Gedanken aus eigenem Grunde liefern können,
wenn wir darin nachgraben wollten?“
3
1
Siehe oben S. 101
f.
2
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Original-
ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 83 f. und
öfter (= Philosophische Bibliothek, Bd 37 d).
3
Gottfried Wilhelm von Leibniz: Nouveaux essais, Vorrede, übersetzt von