[94/95]
105
Ehe wir weiter gehen, ist es wichtig, schon jetzt einen Blick auf die w e i t e -
r e n S c h i c k s a l e d e s A p r i o r i b e g r i f f e s zu werfen. Diese sind
nämlich dadurch gekennzeichnet, daß überall Versuche einer Überwindung der
Subjektivität und Formalität zutage treten. F i c h t e zählt unter die notwen-
digen Vernunfthandlungen, also unter das Apriori auch die Empfindung. Dabei
war ihm natürlich nicht der Gesamtinhalt des Bewußtseins in gleicher Weise ein
Apriori. Denn die Empfindung wird nur m i t t e l b a r gesetzt durch „bewußt-
lose Produktion“ und als „Schranke des Ich“
* 1
. Daher hat das Empfundene doch
nicht die gleiche Stellung wie die u n m i t t e l b a r gesetzte Bewußtseinstat. —
Ähnlich S c h e l l i n g . Ihm ist die Natur selbst apriori, insofern nämlich in ihr
der Weltgeist sich in der Form der Objektivität darstellt
2
. Aber diese Handlun-
gen des Geistes sind ebenfalls, wie bei Fichte, mit jenen bewußten Setzungen
nicht zu vergleichen, welche der Erkennende vollzieht. Dasselbe gilt für H e g e l
3
.
Die wesentlichen Punkte dieses, wie uns scheint, bisher nicht richtig aufgefaßten
Sachverhaltes sind also folgende: Kant lehrt ein f o r m a l e s Apriori des Be-
wußtseins, während ihm der Inhalt des Bewußtseins aposteriori war; Fichte
Schelling und Hegel lehren das Apriori im Sinne eines Gebäudes notwendiger Ver-
nunfthandlungen, wozu im weiteren Sinne auch die Empfindung mit ihrem In-
h a l t e , also die Natur, gehört. Aber das Empfundene ist nun nur im v e r -
m i t t e l t e n Sinne notwendige Vernunfthandlung. Daher tritt hier das sub-
jektive Apriori nur in Entsprechung mit einem objektiven Apriori (dem Apriori
des Empfundenen, das heißt der Natur) auf. Zu dem s u b j e k t i v e n o d e r
u n m i t t e l b a r e n A p r i o r i g e h ö r t w e s e n s g e m ä ß e i n o b j e k -
t i v e s o d e r m i t t e l b a r e s A p r i o r i .
/
Mit diesem Satze ist unseres Erachtens die tiefste Forderung und daher der
innere Entwicklungsgang des Idealismus aller Zeiten bezeichnet.
c.
Erscheinung und Ding an sich. Naturphilosophie
Eine eigene Seinslehre und Naturphilosophie entwickelte Kant
nicht, ist aber mittelbar durch die Unterscheidung einer „Erschei-
nungswelt“ vom „Ding an sich“ gegeben. Das bloß Formale und
Subjektive des Kantischen Apriori hat zur Folge, daß die Erfah-
rungswelt nur subjektive Erscheinung, „Phainomenon“ sei, hinter
der das unerkennbare Ansich der Dinge, das „Noumenon“, stünde.
Im Besonderen sind darum auch Zeit und Raum bloß unsere subjek-
tiven Anschauungsformen der Natur.
Rein sprachlich wäre mit Schelling zu bemerken, daß die Bezeichnung „Ding
an sich“ in sich unlogisch ist. Denn wenn das „Ansich“ unerkennbar ist, ist es kein
„Ding“, wenn es aber ein Ding ist, ist es nicht „ansich“, sondern schon kategorial
bestimmt, nämlich durch den Ding- oder Substanzbegriff (das ist der Einheit aller
Carl Schaarschmidt unter dem Titel: Neue Abhandlungen über den menschlichen
Verstand, 3. Aufl., Leipzig 1915 (= Philosophische Bibliothek, Bd 56).
1
Siehe die Lehre vom Anstoß unten S. 132 ff.
2
Siehe unten S. 263 ff.
3
Über Platon und Aristoteles siehe unten S. 116 f.