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deckt. Er bedeutet auch eine i n h a l t l i c h e Bestimmtheit, nicht
nur eine formale Bedingung der Erkenntnis.
Der I n h a l t d e r K a t e g o r i e n t a f e l zeigt bekanntlich große Mängel.
Denn es kann nicht einmal die Tafel der Urteile vor der Logik bestehen (zum
Beispiel die Scheidung in assertorische, apodiktische, limitierende Urteile), um so
weniger daher auch das daraus abgeleitete Netz der Kategorien. — Im einzelnen sei
nur bemerkt, daß die „Wechselwirkung“ in Wahrheit keine eigene Kategorie ist,
sondern einfach Kausalität, nämlich fortgesetzes Aufeinanderwirken; wäre damit
aber W e c h s e l s e i t i g k e i t gemeint — wie sie zum Beispiel in der Gezweiung
auftritt — dann könnte mechanische „Kausalität“ keine a l l g e m e i n e Kategorie
sein, da mechanische Kausalität und sinnvolle Wechselseitigkeit einander aus-
schließen. — Schlimmer aber ist es, daß das U r t e i l g a r n i c h t d i e
F o r m i s t , d i e a l l e D e n k a k t e p r i m ä r e n t h ä l t , also die Kate-
gorien anzeigt! Das Bewußtsein arbeitet nicht so, daß einzelne Bewußtseinsstücke
in ihm herumschwämmen und dann erst (nachträglich!) durch „Synthesis“ ver-
einigt würden, welche / „Synthesis“ eben ein Urteil wäre! Hier steckt ein indivi-
dualistisch-atomistisches Grundelement in der Kantischen Lehre, zwar nicht in der
Absicht Kantens, aber in den Mitteln der Durchführung. Es ist nicht der Fall, daß
die Einheit des Bewußtseins durch Überwindung einer „Rhapsodie“, eines Gemen-
ges von Bewußtseinsstücken (Vorstellungselementen) zur „Harmonie“ errungen
würde. Wären zuerst gleichsam selbständige Bewußtseinsstücke da, die erst
n a c h t r ä g l i c h vereinigt würden, dann wäre die Grundtatsache von Be-
wußtheit (von Vorgestelltheit, von Verstandesteilen), vor der Einheit gegeben,
das heißt das Ding vor dem Gedachtwerden; und die ganze Kantische Aufgabe
der „transzendentalen Deduktion“, das heißt der Auffindung der Stammbegriffe,
welche aus der Einheit folgen müssen, wäre unlösbar.
Hier liegt unseres Ermessens die grundsätzliche Schwäche der Kategorientafel
ihrem I n h a l t e nach — daß sie nämlich aus den Einzelheiten des Bewußtseins,
aus dem Urteil, abgeleitet ist. Aber es liegt hier auch zweifellos eine grundsätzliche
Schwäche der g a n z e n Erkenntniskritik Kantens. So genial sein Begriff der
„transzendentalen Apperzeption“ ist, die Ausführung ist insoferne in der ver-
kehrten Richtung versucht worden, als „Apperzeption“, „Synthesis“, wie betont,
als Vereinigung aus Stücken, als n a c h t r ä g l i c h e Vereinheitlichung aus
schon vorher vorhandenen Bewußtseinsstücken, nicht denkbar ist. Vielmehr: die
Einheit muß grundsätzlich v o r g e h e n und sich nachträglich b e s o n d e r n !
Nicht Zusammensetzung, sondern A u s g l i e d e r u n g der Einheit, Konkreti-
sierung, kann allein ihren Weg bezeichnen. — Diesen Weg beschritt später
F i c h t e .
b.
Der Begriff des Apriori
Daß Kantens Kategorientafel inhaltlich fehlerhaft sei, wäre kein
entscheidender Einwand. Denn diese Tafel gälte es ja nur zu ver-
bessern. Entscheidend bleibt daher allein die Frage: Ist die Annahme
von apriorischen Denk- und Sinnlichkeitsformen überhaupt grund-
sätzlich zulässig? Wir haben schon gezeigt
1
, daß diese Frage grund-
sätzlich bejaht werden müsse.
1
Siehe oben S. 99 ff. und öfter.