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erst: „Das Ich setzt sich selbst als bestimmt durch das Nichtich“;
worin dann zwei weitere, entgegengesetzte Bestimmungen liegen:
(a) Das Ich wird bestimmt durch das Nichtich, das heißt es ist lei-
dend; (b) das Ich bestimmt sich selbst (denn es setzt sich ja als be-
stimmt), das heißt es ist tätig. Also ist das Ich zugleich leidend und
tätig. Der Satz: „Das Ich setzt sich selbst, bestimmt durch das Nicht-
ich“, sagt: es verhält sich theoretisch; der Satz: „Das Ich setzt sich
bestimmend das Nichtich“, sagt: es verhält sich p r a k t i s c h .
In diesem „Praktischen“ liegt nun, daß das Ich sich selbst seinen
Zweck setzt, seinen Selbstzweck verwirklicht. Hier ist es, wo der
übersinnliche Grund in Fichtes Lehre zutage tritt: Das Ich und sein
notwendiger, vernünftiger Zweck sind das Übersinnliche! Die theo-
retische Vernunft vermag die im Nichtich liegende, vom Jenseits
kommende Schranke des Nichtich nicht völlig zu überwinden, ver-
mag nicht zur absoluten Einerleiheit von Subjekt und Objekt zu
kommen. Diese Schranke wird vom praktischen Ich überwunden:
durch die reine Pflichttat. Hier ist die Einerleiheit des empirischen
mit dem reinen Ich zu erreichen. Im ewigen Sollen tritt uns die
„ursprüngliche Realität“ des „Ding an sich“ entgegen. Die sittliche
Weltordnung, die sich hier als jene absolute Subjekt-Objektivität
(Einerleiheit von Ich und Nichtich) offenbart, welche in der theore-
tischen Vernunft nie voll erreicht wurde, ist Darstellung des Abso-
luten; ihr schöpferisches Prinzip ist G o t t, das Innewerden die-
ser Weltordnung, daher G l a u b e . Der im wahren Wesen des Ich
angelegte Selbstzweck ist die Vernunft (dasselbe, was Schelling und
Hegel die „Weltvernunft“ nannten).
/
Eine Vorrangstellung der praktischen Vernunft tritt auch in Fichtes Begriff der
N a t u r , wie wir ihn schon kennenlernten, mittelbar zutage. Das Mittel nämlich
zur Erreichung unseres Selbstzweckes ist die Natur. Diese bringt uns zum be-
s t i m m t e n Handeln und ist die Schranke, an der wir unsere moralischen
Kräfte entfalten. Sie ist „das versinnlichte Material unserer Pflicht“. Licht und
Luft zum Beispiel werden durch das Sehen und Hören deduziert, weil ohne sie
die Menschen sich nicht sehen noch hören könnten usw.
1
Fichte folgt in der Sittenlehre und Rechtslehre weitgehend Kan-
ten. Uber Kant hinaus geht er aber durch den Imperativ „ e r -
f ü l l e j e d e s m a l d e i n e B e s t i m m u n g “
2
. Dadurch wird
1
Siehe oben S. 109.
2
Johann Gottlieb Fichte: Werke, Bd 4, Leipzig 1922, S. 150 ff. (= Philo-
sophische Bibliothek, Bd 130).