Table of Contents Table of Contents
Previous Page  5822 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 5822 / 9133 Next Page
Page Background

138

[124/125]

die formale in eine materiale Ethik verwandelt. Es wird ein Über-

Dir auf wirksamere Weise in die Sittenlehre gebracht, als bei Kant,

wo bloß die Allgemeingültigkeit des Vernunftgesetzes, das „Be-

wußtsein überhaupt“, das Über-Dir vorstellt. Denn mit der „Be-

stimmung“ tritt (was Fichte immer klarer folgert) eine W e l t -

O r d n u n g auf, welche über jedem Einzelnen steht. Letzter

Grund des Sittlichen ist das Absolute, welches den einzelnen Ichen

ihre Bestimmung anweist.

F r e i h e i t s l e h r e . Unser Leben stammt ans einem allgemeinen Leben, wel-

ches erst in reflexiver Tätigkeit (der Selbstentgegensetzung) zum individuellen

Bewußtsein kommt. Es erwacht ohne Willen, o h n e F r e i h e i t . Erst der

Aufschwung des Geistes zur Erkenntnis des sittlichen Zweckes, zu dem wir leben,

führt zur Freiheit. Diese „Erkenntnis“ ist aber etwas Unmittelbares, ein Gewis-

sensakt, eine „ i n t e l l e k t u e l l e A n s c h a u u n g “ , mittelst der wir unsere

Bestimmung ergreifen.

8 . G e s e l l s c h a f t s l e h r e

Fichte entwickelt in der Gesellschaftslehre von Anbeginn den Be-

griff des Über-Dir, den Gemeinschaftsgedanken. Er gründet das ge-

sellschaftliche Ich nicht auf sich selbst, sondern auf das Du. Das ge-

schieht durch den Begriff der „A u f f o r d e r u n g“. Der erste

Anfang des Wollens, sagt Fichte, ist nur möglich, wenn der Mensch

von einem andern dazu bestimmt, aufgefordert werde. „Sollen

Menschen überhaupt sein, so müssen mehrere sein“, sagt er schon

im „Naturrecht“, 1796. Sobald man den Begriff des Menschen „voll-

kommen bestimmt, wird man von dem Denken des Einzelnen aus

getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu

können“

1

.

Leider führte Fichte diesen Gedanken in seinem Rechts-, Staats-

und Gesellschaftsbegriff nicht durch, blieb vielmehr durchaus in

den / Lehrbegriffen des übernommenen individualistischen Natur-

rechts, indem er Recht und Staat noch aus dem Vertrage ableitete. In

seiner Spätlehre hat er jedoch auch im Aufbau der Lehrbegriffe

mehr und mehr den Individualismus überwunden

2

. Seine Führer-

lehre dagegen war von Anbeginn nicht individualistisch und grün-

1

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts (1796), Leipzig 1922,

S. 33 (= Werke, Ausgabe Medicus, Bd 2 = Philosophische Bibliothek, Bd 128).

2

Am meisten in seinen Reden an die deutsche Nation (1809), in: Fichtes

Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, herausgegeben von Plans Riehl, Teil 1,

Jena 1928 (= Die Herdflamme, Bd 15).