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lich bleiben mögen), eben deswegen deuten sie auf eine eigene gei-
stige Seinsebene hin, die man kantisch das „intelligible Reich“,
platonisch das „Ideenreich“ heißt. Denn Wahrheit, Wissen, Pflicht,
Freiheit, Liebe, Erleuchtung und Gottinnigkeit gilt es nicht nur in
ihren sinnlichen Äußerungsweisen / zu erforschen, wie der Empi-
rist meint; sondern es gilt, ihren inneren Wurzeln nachzuspüren
und dessen inne zu werden, wie sie aus ihrem geistigen Boden,
aus einer übernatürlichen Ordnung ihre Nahrung ziehen, gleichwie
die Weltesche ihre Wurzeln im Himmel, ihren Wipfel auf Erden hat.
Handgreifliche Hinweise ebensowenig wie feingesponnene Syllo-
gismen können diesen Beweis jemals zu Ende bringen. Der philo-
sophische Gedanke des Idealismus muß gleichsam auf das Zarte zu-
rückgeführt werden, erst dann kommt es zur geistigen Anschauung,
zur einsichtigen Gewißheit.
B. Die P f l e g e d e r i d e a l i s t i s c h e n P h i l o s o p h i e
b e i d e n A l t e n i n L e b e n s g e m e i n s c h a f t e n
Sonderbar, daß alle unsere Geschichtswerke der Philosophie an
einer Tatsache vorübergehen, ohne welche bis in das späte Mittelal-
ter herauf das philosophische Leben doch unmöglich verstanden
werden kann, an der Tatsache, daß alle alten Schulen des Idealismus
als gestiftete Bünde, als sakrale Lebensgemeinschaften zwischen Leh-
rer und Schüler auftraten; und zwar als solche, welche innere und
äußere Ringe, das heißt Geheimlehren und öffentliche Lehren, un-
terschieden. Sie waren in den inneren Ringen keine bloßen Gelehr-
tenschulen, sondern zugleich Schulen der Lebenskunst, in denen
mehr als Gelehrsamkeit, nämlich die Versenkungskunst geübt
wurde.
Das war ein anderes Studium, als es heute üblich ist. Die Gedan-
kenkunst war nicht für sich selbst das Ziel. Die begrifflichen Lehren
wurden vielmehr auf die jeweils erreichten inneren Zustände auf-
gebaut.
So stand es in den Geheimschulen der Brahmanen (Upanishaden), so in den
Weisheitschulen der Buddhisten, so in den Priesterschulen der Ägypter, so gewiß
auch in den Priesterschulen der alten Germanen und Kelten, so in den Schulen
und Bünden der Orphiker und Pythagoräer, so auch in der Akademie Platons.
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