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Der naturhafte Mensch kann nur das Naturhafte sehen. Darum be-

darf es eines inneren Umschwunges, einer Neugeburt. „Es sei denn,

daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes

nicht sehen“, belehrte Christus den Nikodemus

1

.

Daß in diesem Zusammenhange auch auf die a u ß e r o r d e n t -

l i c h e n S e e l e n k r ä f t e des Menschen zu verweisen wäre,

versteht sich von selbst. Doch sei es hier unterlassen, um Mißver-

ständnisse auszuschließen und den Empiristen keine Vorwände zu

geben.

Wir können die Probe auf das Gesagte machen, wenn wir den

g e s c h i c h t l i c h e n

P e r s ö n l i c h k e i t e n der idealisti-

schen Philosophen den Spiegel Vorhalten. Bei Sokrates ist der höhe-

re Sinn geweckt. Sein Daimonion und seine Lehre vom „Nichtwis-

sen“ beweisen es. Bei Platon zeugt alles von höchster Erweckung,

und daß er sie vom Philosophen verlangt, haben wir soeben gehört.

Bei Aristoteles fehlt sie nicht, was schon sein Begriff des

νούς

be-

zeugt, wie oft auch sonst die Lehre ins rein Begriffliche, sogar Äuße-

re gezogen wird. Bei den Neuplatonikern und allen anderen Mysti-

kern versteht sich die entscheidende Rolle der inneren Erfahrung

von selbst. Von Meister Eckehart werden wir später untrügliche

Zeugnisse hören. In der Scholastik weisen uns die Namen Augu-

stinus, Scotus Eriugena, Bonaventura, Albert der Große durchaus

auf metaphysisches Erleben als Grundlage der Philo- / sophie hin.

Aber auch die mehr ins Logische strebende Aristotelische Rich-

tung des Thomas ist ohne innere Erfahrung nicht zu verstehen

(weshalb heute Thomas von den Neuscholastikern allzu rationali-

stisch ausgelegt wird). Leibniz philosophiert von einer lebendigen

inneren Anschauung aus, die ihm unendliche Überlegenheit über

seinen Gegner Locke gab. Kant war keineswegs nur Verstandes-

mensch. Vielmehr lag die Wurzel seiner Lehre in einer Eingebung,

die alles durchzieht, in der Gewißheit sittlicher Entscheidung, von

der aus ihm auch die metaphysische Gewißheit feststand. Das be-

zeugt unter anderem die Gegenüberstellung „der bestirnte Himmel

über mir und das moralische Gesetz in m i r . . . “ am Schlusse seiner

„Kritik der praktischen Vernunft“

2

. Allerdings hat seine Lehre,

1

Johannes, 3, 3.

2

Siehe oben S. 94 f.