[173/174]
195
Was Platon seinen Gegnern oft und oft vorwirft, ist: daß sie nicht zur Er-
leuchtung kommen, nicht die menschliche Größe aufbringen, die zur Philosophie
gehört
1
.
Philosophie muß gelebt werden. Der Gedanke muß das Leben be-
stimmen. Zuvor muß aber Philosophie erlebt werden. Es muß jene
Eingebungsgrundlage geschaffen werden, aus der der Gedanke er-
wächst. In diesem zweifachen Sinne waren die alten Schulen Lebens-
gemeinschaften. Sie waren Bünde der inneren Erweckung ebenso
wie der Gestaltung des Lebens. Wissen und Können darf in der Phi-
losophie nicht zweierlei sein. Weisheit ohne Tugend ist nicht mög-
lich. Rechtes Leben ist die Voraussetzung für jene Eingebungen,
welche die Grundlage für die Begriffe der Weisheit bilden.
Darüber glaubt sich nun der E m p i r i s t erhaben. Er stellt
sich den Weisen und Gelehrten gleichsam als einen Gepäckträger des
Wissens vor. Und in der Tat! Der Empirist weiß das Handgreifliche
und kann / auch danach leben. Es kann ein biederes Leben sein,
aber ohne innere Erhebung.
Der A p r i o r i s t weiß die Unverbrüchlichkeit des Denkens
und daher auch die Bestimmung des Lebens durch den Gedanken,
der Pflicht, und kann auch darnach leben: Ein Leben der Gedanken-
strenge, ein Leben der Wissenschaft und des ihr entsprechenden sitt-
lichen Rahmens. Hier scheint das Wissen zwar noch für sich erlang-
bar, aber dem Wesen der Lehre nach muß es doch mit Tugend
Zu-
sammengehen.
Der metaphysische Idealist weiß die übersinnliche Wurzel des Ich
und der Welt. Ohne die innere Erfahrung des Metaphysischen ist
ihm seine Weisheit ebensowenig erschwinglich, wie die letztere
ohne Ausübung im Leben einen Sinn hat. Indem der Mensch auf die-
sem Standpunkte alles mit anderen Augen ansieht, Natur, Gesell-
schaft, Staat, Familie, Kunst, Religion, wird ihm trotz des Wider-
standes der Welt die Lebenshaltung, die ihm entspricht, schließlich
zur zweiten Natur.
Das Geheimnis des Idealismus ist nie ein bloßes Geheimnis des
Erkennens, sondern noch mehr des inneren Erfahrens. Die höchsten
philosophischen Erkenntnisse sind ohne Erweckung nicht faßbar.
1
Vgl. unter anderem Platon: Briefe, 341 d; Gastmahl, 210 e; Theaitetos,
174 a, das Beispiel von Thaies, der, die Sterne betrachtend, in den Brunnen fällt
und von einer Thrakerin verspottet wird; Staat, 496 b und öfter.