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Unentbehrlich für das Verständnis der Ideenlehre dünkt uns ihr
religiöser Ursprung, auf den wir später noch zu sprechen kommen.
Nur er läßt ihre letzte Eingebungsgrundlage erkennen.
Durch den Ideenbegriff ist Platons S e i n s l e h r e bestimmt.
Nicht der Materie, nur den Ideen kommt das „ s e i e n d e S e i n “
(
όντως όν
)
zu. Man pflegt bisher das όntoos όn als „wahrhaftes
Sein“ zu übersetzen und zu deuten. Das ist ein grundlegender Feh-
ler! Philologisch genommen ist das zu rechtfertigen, aber begrifflich,
philosophisch genommen, verhüllt es den tieferen Sinn des Wortes!
Es muß buchstäblich, nämlich das Adverbium óntoos als „seientlich“
oder „seiend“ (nicht als „wahrhaft“, was nur übertragen gilt!), ön-
toos ón daher als „ s e i e n d e s S e i n “ übersetzt werden: Das
„ s e i e n d e S e i n “ , w e l - / c h e s n i c h t e r s t w i r d ,
s i c h n i c h t e r s t e n t w i c k e l t , s o n d e r n s c h o n
i s t ! Hiemit schuf Platon einen grundlegenden Begriff der Seins-
lehre. Das Werden kommt nach Platon nicht dem ideenhaften, nur
dem sinnlichen Sein, der M a t e r i e zu, die ihm daher verhält-
nismäßiges Nichtsein
(
μή όν
)
ist. Sie wird zur Körperwelt, indem
sie die Ideen aufnimmt. Damit hat Platon die Ontologie H e r a -
k l i t s , nach welcher „alles fließt“, es daher nur Werden gibt, mit
jener der E l e a t e n , nach welcher das wahrhaft Seiende nur rein
Beharrendes, das „Eine“ ist, die Vielheit der Dinge dagegen nur
Schein, vereinigt; denn die Idee beharrt, die sinnliche Erscheinung
wird und vergeht. — Im „Sophistes“, den wir als eines der reifsten
Werke Platons betrachten, scheint aber Platon die Lehre des „Phile-
bos“, wonach die Materie nur das Bestimmungslose (Apeiron) ist,
welches seine Bestimmtheiten von der Idee erhält, dahin fortzubil-
den: daß auch in der Ideenwelt durch die Bestimmtheit, Begrenzt-
heit der Idee ein relatives Nichtsein (
μή όν
)
anzutreffen sei, denn
jede Idee ist das n i c h t , was die anderen Ideen sind. Der Idee A,
so können wir es erläutern, steht daher B, C, D ... als Non-A ge-
genüber. Dieses „Non“ ergibt eine Gegensatzlehre oder D i a 1 e k -
t i k. Denn das Non-A ist für das A das Nichtseiende. Aber, so
folgert Platon: dieses Nichtseiende sei nicht in jedem Sinne nicht,
sondern nur verhältnismäßig nicht (nur
μή όν
,
nicht
ούκ
όν
=
nichts sein). Das verhältnismäßig Nichtseiende ist dann ein zweites
Etwas neben dem rein Seienden
1
.
1
Siehe unten S. 214 f.