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Gesetz der V e r k n ü p f u n g (
αυναγωγή
) u n d S c h e i d u n g o d e r D i a i -
r e s i s (
διαίρεοις,
Scheidung, Einteilung) der Ideenwelt gegeben. Die Einteilung
mit Rücksicht auf die Nebenarten ist zweischrittig (dichotomisch), mit Rücksicht
auf den Stufenbau der Gattungen und Arten kontinuierlich („Phaidros“, „Sophi-
stes“, „Politikos“). — Die Darstellung der B e g r i f f e (Ideen) als über-, unter-
und nebengeordnete geschieht im Urteile, die unmittelbare Unterordnung in der
Definition, die mittelbare (durch das Mittelglied) im Schluß. Die vollständige Er-
kenntnis des Aufbaues der Begriffswelt (Ideenwelt) führt zur Erkenntnis der all-
gemeinsten Begriffe oder obersten Gattungen
(τά μέγίσια γένη),
der K a t e -
g o r i e n (eine Bezeichnung, die erst Aristoteles gebraucht). Diese sind im „So-
phistes“ (250 a ff., 254 c ff.) und „Timaios“ (33 a ff.): das Seiende, Ruhe, Bewe-
gung, Dasselbigkeit, Anderheit (
όν, ατάσις, χινηαις, ταυτόν, θάτερον
).
Hier einige Belege für diese wichtige Frage, n a c h w e l c h e n G e s e t z e n
d i e I d e e n s i c h m i t e i n a n d e r v e r b i n d e n k ö n n e n (vereinbar
sind) oder nicht (unvereinbar sind). „Die Drei ist des Geraden unteilhaftig“
1
,
sie nimmt daher das Gerade nicht an. Wird zur 3 die 4 hinzugenommen, so gibt es
doch die ungerade 7. Daraus folgt die Regel: Das Gegenteil von dem, was die
Ideen den Dingen (die an ihnen teilnehmen) verleihen, nehmen die Ideen selbst
nicht auf. Daher 3+4 = 7 besagt, daß die hinzukommende Gerade aus der Un-
geraden wieder eine Ungerade macht; 9 + 3 = 12 besagt, daß die hinzukom-
mende Ungerade macht (9), die Gerade (12) macht. Platon sagt
2
: „ ... daß nicht
allein das Entgegengesetzte
(τό έναντίον
) das Entgegengesetzte nicht annimmt
(das heißt, daß sich entgegengesetzte Ideen nicht verbinden können), sondern auch
daß jenes, was irgendein Gegenteil jenem zubringt, zu welchem es immer kom-
men mag (z. B. mit dem die Drei als ungerade Zahl der geraden Zahl die Unge-
radheit zubringt, oder z. B. die Drei einer ungeraden Zahl die Geradheit zubringt),
daß eben dieses Zubringende niemals das Gegenteil des Zugebrachten (nämlich
ihrer selbst, z. B. die ungerade Zahl die Geradheit) aufnimmt.“
Die Seele (die selbst eine Idee ist) belebt den Körper, dem sie innewohnt: „Es
wird also die Seele (die das Leben bringt) das Gegenteil von dem, was sie bringt
(den Tod) nicht aufnehmen.“
3
In diesen Zusammenhang gehört es auch, daß Platon bereits (gegen Heraklit)
den S a t z d e s W i d e r s p r u c h e s entwickelt, den später A r i s t o t e l e s
zu einem wichtigen Lehrbegriff machte. Gegen das alle Gegensätze vereinbarlich
machende Verfahren macht Platon
4
geltend, daß nie etwas dasselbe Bleibende
zugleich im selben Sinne und in derselben Beziehung das Entgegengesetzte lei-
den, sein oder tun könne
5
. Damit ist auch der Satz der Einerleiheit vorwegge-
nommen
6
.
φ.
Seinslehre
1.
A r t e n d e s S e i e n d e n : M ö g l i c h k e i t u n d W i r k l i c h k e i t .
Bei Platon findet sich bereits die Unterscheidung mehrerer Seinsarten: (1) Seiendes
Sein
(όντως όν),
(2) sinnliches Sein (Werden, das „Gemischte“ des „Philebos“)
und (3) bedingungsweises Nichtsein (
μή
όν,
„Sophistes“), werden, wie schon be-
1
Platon: Phaidon, 104 e.
2
Platon: Phaidon, 105 a.
3
Platon: Phaidon, 105 d. — Platons Unsterblichkeitslehre siehe unten S. 217.
4
Platon: Staat, IV, 436.
5
In gleicher Weise: Sophistes, 239.
6
Siehe unten S. 248.