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merkt, einander gegenübergestellt. Die große Bedeutung der Lehre: daß / auch
das Nichtseiende sei, wird heute nicht gewürdigt. Sie richtet sich gegen die Elea-
ten ( Z e n o : „Daß Du mir nicht behauptest, das Nichtseiende sei“) und besagt,
dieses vergleichsweise Nichtseiende (der Gegensatz, der Stoff) sei kein absolut
Nichtseiendes, kein Nichts schlechthin (was im Griechischen nicht
μ
ή όν
,
sondern
ου κ όν
heißt).
Grundlegend ist unseres Erachtens der oben erwähnte Begriff des „ s e i e n d e n
S e i n s“. Denn diese Unterscheidung enthält schon, was bisher übersehen wird,
eine weitere grundlegende Unterscheidung in sich: das S e i n d e r V e r w i r k -
l i c h u n g n a c h u n d d a s S e i n d e m V e r m ö g e n n a c h . Später
nannten das A r i s t o t e l e s u n d d i e A r i s t o t e l i k e r : das Sein als
„Dynamis“ (Kraft) oder Möglichkeit, Potentialität, und das Sein als „Energeia“
(wörtlich Ein-Werkung — Verwirklichung) oder Wirklichkeit, Aktualität (poten-
tia — actus). Gegen die herrschende Meinung ist nochmals ausdrücklich festzustel-
len, daß die U n t e r s c h e i d u n g d e s v e r m ö g l i c h e n u n d v e r -
w i r k l i c h t e n , p o t e n t i e l l e n u n d a k t u e l l e n S e i n s n i c h t A r i -
s t o t e l e s , s o n d e r n s c h o n P l a t o n a n g e h ö r t e .
Platon sagt hierüber im „Sophistes“ (247 d ff.): „... daß das Seiende von fol-
gender Art sei... [nämlich], daß das, was ein wie auch immer beschaffenes
Vermögen
(
δύναμιν
)
besitzt, entweder auf ein beliebiges Anderes einzuwirken oder
auch nur das Mindeste... zu leiden..., daß alles dieses wirklich sei. Denn ich
stelle, indem ich das Seiende bestimme, die Bestimmung hin, daß es nichts anderes
ist als ein Vermögen (
δύναμις
)“; .48 b heißt es, die Verbundenheit der Dinge
sei „ein Leiden oder ein Wirken, daß infolge eines Vermögens von dem
miteinander sich Verbindenden entsteht...“ Ferner: Erkennen ist Wirken, woraus
folgt, „daß das, was erkannt wird [die Idee], leide: daß also das Sein [die
Idee] ... sich bewege, vermöge des Leidens, welches doch dem Beharrenden [der
Idee] nicht zukomme. Wie a b e r b e i m Z e u s ! S o l l e n w i r u n s s o
l e i c h t ü b e r r e d e n l a s s e n , d a ß B e w e g u n g , L e b e n , S e e l e u n d
E i n s i c h t d e m v o l l k o m m e n S e i e n d e n w i r k l i c h n i c h t z u -
k o m m e , u n d d a ß e s w e d e r l e b e n o c h v e r s t ä n d i g s e i , son-
dern ohne den Besitz der erhabenen und heiligen Vernunft unbeweglich stillsteht?“
Platon sagt hier nicht weniger, als daß die I d e e s e l b s t d e n k e ! Und
daraus folgt wieder, daß sie persönlich — gleich den Göttern sei!
Ist nun der Begriff des Seins als Vermögen und der Begriff der Ideen als „sei-
endes Sein“ ein Widerspruch, da doch „Vermögen“ das noch nicht Entwickelte,
das „seiende Sein“ aber das schon Entwickelte, was nicht erst zu werden braucht,
ist? Und wie stimmt zur Idee als seiendem Sein, daß sie „ B e w e g u n g , L e -
b e n , S e e l e u n d E i n s i c h t “ habe? Unseres Erachtens ist dieser Wider-
spruch auflösbar. Denn: ist das Sein ein V e r m ö g e n zu wirken und zu lei-
den, so kann das vollkommen Seiende, das seiende Sein (
παντελώς όν
,
das
όντως όν
,
das sind nach den sonstigen Erklärungen Platons nichts anderes als die
Ideen), auch nicht ohne Bewegung und Leben gedacht werden, da es, so kann
man hinzufügen, ja w i r k t ; hat es aber Leben und Bewegung, so muß es
auch, das folgt weiter, Seele und Einsicht haben, da es ja Geistiges wirkt.
Als Schwierigkeit bleibt allerdings zurück, daß die Ideen als „Bewegung und
Leben“ zugleich W e s e n s g r u n d für das Bleibende („Was die Dinge sind“) /
sein müssen. Wie diese Schwierigkeit zu beheben ist, hat Platon nirgends gezeigt,
doch deutet die Denkaufgabe hier in dieselbe Richtung wie bei F i c h t e : d i e
s i c h s e t z e n d e U r t ä t i g k e i t i s t V e r m ö g e n s c h l e c h t h i n ,