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Schau des Schönen an sich ausdrücklich als A u f s t i e g vom einzelnen (schönen)

Leibe zu den Leibern überhaupt, zu den Seelen, Bestrebungen, Sitten, Erkennt-

nissen, zur „hohen See des Schönen“ geschildert

1

. Den lebendigsten Ausdruck

gab Platon seiner gesamten Philosophie in dem berühmten H ö h l e n g l e i c h -

n i s (7. Buch des „Staates“), das wir in der Übersetzung von Wilhelm Andreae

2

anführen.

„Nunmehr sprach ich, versinnbildliche dir unsere Natur und ihre Bildung oder

Unbildung an folgendem Zustand. Siehe die Menschen gleichsam in einer unter-

irdischen, höhlenartigen Wohnung mit einem Eingang, der sich gegen das Licht

öffnet, in Breite der ganzen Höhle, in der sie von Kind an leben, mit Fesseln um

Schenkel und Nacken, so daß sie dort bleiben müssen und nur nach vorn sehen,

aber infolge der Fesseln ihre Köpfe nicht herumdrehen können. Licht aber be-

kommen sie von einem Feuer, das oben und fern in ihrem Rücken brennt, und

zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein Weg, und an ihm entlang

denke dir eine Mauer gebaut, wie Gaukler vor den Leuten Schranken errichten,

über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen. — Ich sehe es, sagte er. — So siehe

denn auch, daß Menschen hinter der Mauer mannigfache Geräte entlangtragen, die

die Mauer überragen... und daß sie, wie natürlich, teils sprechen, teils schwei-

gen beim Vorübergehen. — Seltsam ist dein Bild, sprach er, und seltsam sind

deine Gefangenen. — Unseresgleichen, sagte ich. Glaubst du etwa, daß solche

Menschen ernstlich von sich selbst und einer vom andern mehr gesehen haben

als die Schatten, die vom Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand

fallen? — Wie könnten sie wohl, sagte er, wenn sie die Köpfe ihr Leben lang

unbeweglich halten müssen? — Und dann von den vorübergetragenen Gegenstän-

den, ist es damit nicht ebenso? — Wie sonst? — Wenn sie also imstande wären,

sich miteinander zu besprechen, müßten sie dann nicht, was sie sehen, für wirk-

liche Dinge halten? — Notwendig. — Und wenn dann der Kerker an der gegen-

überliegenden Wand einen Widerhall hätte, müßten sie dann, so oft einer von

den Vorübergehenden spräche, nicht annehmen, daß nichts anderes spricht, als

der vorübergehende Schatten? — Beim Zeus, das meine ich, sagte er. — Und über-

haupt, sprach ich, würden doch solche Leute nichts anderes für wahr halten als die

Schatten der Geräte. — Unbedingt, sagte er.

So betrachte denn, sprach ich, wie ihre Lösung und Heilung von Fesseln und

Unverstand vor sich gehen müßte, wenn es ihnen wirklich so erginge: So oft

einer entfesselt würde und plötzlich aufstehen müßte, um mit umgewandtem

Nacken vorwärts zu gehen und zum Licht emporzublicken, aber bei alledem noch

Schmerzen hätte und doch wegen des Glanzes jene Dinge, deren Schatten er da-

mals sah, nicht ansehen könnte, was glaubst du, daß er da antworten würde,

wenn man ihm sagte: Damals habe er nur Tand gesehen, jetzt aber sei er der

Wirklichkeit viel näher und, dem viel Wirklicheren zugewendet, sehe er richtiger?

Und wenn man ihm dann jedes Einzelne im Vorübergehen zeigte, und ihn durch

Fragen zu sagen zwänge, was es wäre, / glaubst du nicht, daß er dann in Verlegen-

heit kommen, und, was er damals sah, für wahrer halten würde, als das, was

man ihm jetzt zeigt? — Ja, sehr, sagte er. — Und wenn man ihn nun zwänge in

das Licht selbst zu sehen, so würden ihn doch die Augen schmerzen und er

würde fliehend sich zu dem umwenden, was er erkennen kann und glauben, daß

1

Siehe die Aufstieglehre unten S. 369 f.

2

Platons Staatsschriften, griechisch und deutsch, Teil 2: Staat, Jena 1925

(= Die Herdflamme, Bd 6).