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Er versucht damit, den l e t z t e n U r s p r u n g d e r M a t e r i e i n d i e
I d e e n w e l t s e l b s t z u v e r l e g e n . Eine Fortführung dieses Versuches
finden wir bei Platon leider nicht. Doch kann man, wenigstens in ontologischer
Hinsicht, eine solche bei A r i s t o t e l e s in der Lehre von P o t e n z u n d
A c t u s erblicken, die zugleich an Platons Seinslehre anknüpft: Das relative
Nichtsein (der Materie) ist Potenz, das bestimmende, oder „seiende“ Sein, wie
Platon sagte (der Idee), ist Actus.
Der Actus, so könnte man es erläutern, t r ä g t d i e P o t e n z i n s i c h
u n d i n s o f e r n e a u c h d i e M a t e r i e . Das deutet wohl Aristoteles an,
wenn er sagt: durchformter Stoff und Idee (Form) seien ein und dasselbe. So
verstanden, kämen wir auch bei Aristoteles auf die Ableitung der Materie aus
den Differenzen in der Ideenwelt
1
.
Demgemäß erscheint die Materie bei Platon auch als „Ort der Ideen“ (
χώςα
=
Raum); was allerdings nicht heißt, daß der leere Raum selbst schon die Materie
wäre (wie E d u a r d Z e l l e r und andere fälschlich meinten!).
Ferner bestimmt Platon die Materie teils als Widerstand gegen die Idee, als
das dem Geiste Hinderliche
2
; teils als das ihm doch notwendige Werkzeug, das
vom Geiste „überredet“ wird
3
; also eine relativ selbständige Macht besitzt; nach
Aristoteles’ Bericht endlich als das „ G r o ß e u n d K l e i n e “ , das heißt Quan-
titative
(
μέγα καί μικρόν
).
In o n t o l o g i s c h e r Beziehung erscheint Platons Naturphilosophie nach
dem „Sophistes“ als M o n i s m u s , sofern die Materie aus den Differenzen der
Ideenwelt abgeleitet wird (die allerdings im Gegensatze zur Sinnenwelt in ide-
aler Einheit umfaßt bleiben); nach dem „Timaios“ dagegen als D u a l i s m u s ,
sofern die Materie dort neben Gott besteht. Auf Dualismus könnte auch die böse
Weltseele in den „Gesetzen“ gedeutet werden. Doch ist der „Timaios“ bildlich
zu verstehen.
Im inneren Zusammenhange des Platonischen Lehrgebäudes tritt als die t i e f -
s t e B e s t i m m u n g d e s W e s e n s d e r M a t e r i e jene als das verhält-
nismäßig Nichtseiende hervor, das in der I d e e n w e l t s c h o n a n g e -
l e g t i s t („Sophistes“). / Auch die Bezeichnung als „Apeiron“, Unbestimmtes,
im „Philebos“ ist mit der monistischen Auslegung noch vereinbar, da hier zwar
das Apeiron ein Prinzip gleich der Idee ist, nicht aber neben Gott besteht (wie
gegen Friedrich Schleiermacher geltend zu machen ist).
Formell genommen wäre die Materie bei Platon: (1) Die Aufnehmerin, die
mütterliche Amme, die passive Möglichkeit; (2) demnach Ort der Ideen; (3)
das verhältnismäßig Nichtseiende; (4) das dem Geiste teils hinderliche (Wider-
stand gegen die Idee), teils ihm doch notwendige Werkzeug; (3) das Große
und Kleine, Quantitative.
Das Wesentlichste an der Naturphilosophie Platons bleibt, daß die Naturwelt
ein Abbild der Ideenwelt, das Sichtbarwerden der Idee sei. Sie besteht durch
A n t e i l n a h m e an dem unsichtbaren Vorbild. Darum heißt sie auch E b e n -
b i l d G o t t e s
(
είκων τού θεού)
.
Die durch Z a h l e n dargestellte Harmonie der Natur wird als das Zwischen-
glied betrachtet, welche Idee, Geist
(
νούς
)
und Körper
(
σώμα
)
verbindet.
1
Siehe unten S. 233 f.
2
Platon: Timaios, 56 c.
3
Platon: Timaios, 48 a.
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