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Diesen Seelenteilen entsprechen wieder die Körperteile:
Kopf (Geist), Brust (Gemüt, Tapferkeit), Unterleib (Begierde).
Nach herkömmlicher Auffassung wäre für Platon der Staat der „Mensch im
Großen“ gewesen, den Seelenteilen des Menschen entsprächen die Tugenden, den
Tugenden die Stände. Unsere Tafel kehrt dieses Verhältnis genau um. Denn Pla-
ton geht vom Ganzen aus, nicht vom Einzelnen, von der objektiven I d e e , nicht
vom Subjektiven: der M e n s c h i s t d e r S t a a t i m K l e i n e n !
Der oberste Stand herrscht
1
. Die W e i s e n sind es, welche die Ideen
schauen und das Geschaute weitergeben. Dieses Weitergeben begründet die For-
derung, daß nur der Weise herrschen soll, nur derjenige, der die Idee zu schauen
vermag — ein entscheidender B e g r i f f d e r S t a a t s l e n k u n g , der in allen
idealistischen Lehrgebäuden notwendig enthalten ist. In ihm kommt das Über-Dir
für Leiter und Geleitete zur Geltung. Wie man denn überhaupt Platons Gesell-
schaftslehre eine Lehre von der Gliederung des objektiven Geistes nach den
S a c h e r f o r d e r n i s s e n des r i c h t i g e n G e m e i n s c h a f t s l e b e n s
nennen muß!
Platons Gesellschaftslehre besteht demnach, so dürfen wir es bezeichnen, zuerst
darin, die wesensgemäße Gliederung des Gemeinschaftslebens, jene großen Lei-
stungszweige aufzuzeigen, welche von den verschiedenen S t ä n d e n ausgefüllt
werden; sodann darin, die richtige Teilnahmeweise der Einzelnen an diesen Lei-
stungen, das heißt die T u g e n d e n darzustellen. Denn nach den Gliedschafts-
anforderungen (so würden wir sagen), die an den Menschen vom Ganzen aus
gestellt werden, bestimmen sich die verschiedenen Tüchtigkeiten oder Tugenden.
Diese Tugenden endlich erfordern den Gebrauch bestimmter S e e l e n k r ä f t e .
δ.
Die Bestimmung des Menschen
Unsterblichkeit und Verähnlichung mit Gott sind die metaphysischen Grundlagen
der platonischen Sittenlehre. Die Bestimmung des Menschen ist die auf Erkenntnis
gegründete Verähnlichung mit Gott. Eine berühmte Stelle des „Theaitetos“ lautet
(176, b): „Das Böse, o Thedores, kann weder ausgerottet werden, denn es muß
immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch auch bei den Göttern sei-
nen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber... zieht es umher der Notwen-
digkeit gemäß. Deshalb muß man auch trachten, von hier dorthin zu entfliehen
auf das schleu- / nigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als
möglich, und diese Verähnlichung, daß man gerecht und fromm werde auf Grund
der Erkenntnis.“ Das stimmt mit der staatlichen Tugendlehre überein. Die höchste
Schau der Ideen (welche Gott-Verähnlichung ist) begründet die übrigen Tugen-
den. Die Verähnlichung mit Gott ist der höchste Zweck des Daseins
2
.
G o t t i s t d a s h ö c h s t e G u t , ist die „Idee des Guten“. Auch im „Phi-
lebos“ ist Gott das höchste Gut. Geist
(νούς)
und Einsicht sind gottverwandt und
daher höhere Güter als die Lust, die aber (gleich dem Apeiron, das der Be-
grenzung, die Ideen dient) k e i n e s w e g s g ä n z l i c h f e h l e n d a r f .
Der religiöse Hintergrund der Platonischen Sittenlehre ist auch durch den
Glauben an die V o r s e h u n g
3
gekennzeichnet. Ferner durch die Seelenwan-
derungslehre.
1
Platon: Politikos, V, 473 d ff. — Vgl. Platons Staatsschriften, griechisch und
deutsch, herausgegeben von Wilhelm Andreae, Teil 3: Der Staatsmann, Jena 1926
(= Die Herdflamme, Bd. 13).
2
Diogenes Laertius, III, 78.
3
Platon: Gesetze, 899 d ff. und öfter.