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3. B e u r t e i l u n g
Vor Platons Philosphie verwandelt sich jeder Einwand in Be-
wunderung. Sie lehrte eine geistige Auffassung der Welt, die vor
ihm im Abendlande nicht erreicht und nach ihm nicht übertroffen
wurde. Sie sprach alle Grundgedanken reiner Weisheit aus und
brachte sie, wenn nicht in strenge Begriffe, so doch in unsterbliche
Sinnbilder.
Die hohe Gottesvorstellung; die Lehre von den Ideen als ver-
mittelnder Gewalten göttlicher Art; die Lehre von der Ideenbe-
stimmtheit der Natur und doch zugleich ihrer Vergänglichkeit, ja
des dunklen chaotischen Grundes, auf dem sie sich erhebt; die
Lehre von der geistigen Dialektik des Seins; die Lehre vom Wesen
des menschlichen Gemeinschaftslebens und der Tugend — sie alle
sind aus der Tiefe geschöpft und für die Ewigkeit geschaffen.
Dies bedacht, versteht man, daß Platon nach dem Christentume
die größte geistige Macht des Abendlandes wurde. In der Antike
wirkte sie bis zuletzt in Gestalt des Neuplatonismus, an der Schwel-
le des Christentums durch die Kirchenväter und die ältere Schola-
stik, im Hochmittelalter noch durch den Aristotelismus hindurch,
welcher, wenn auch eine Abschwächung, so doch auch eine Fort-
bildung des Platonismus ist, im deutschen Idealismus endlich war sie
eine unentbehrliche, bildende Kraft.
Seit der Aufklärungszeit wird zwar Platons Weisheit noch mit
Achtung genannt, aber sie galt und gilt auch heute zum Teil nur als
dichterische Schwärmerei. Indessen, womit sonst könnte man dem /
platten Empirismus darauf antworten als mit dem Rate, in sich zu
gehen und Kräfte jener Schau zu erwecken, welche die Platonischen
Lehren in ihrer Echtheit faßt? Platon selbst wußte um dieses sein
Verhältnis zur Welt nur zu gut und antwortete mit dem Gleichnis,
das im „Theaitetos“ erzählt wird: von Thaies, der nach den Sternen
schaut und dabei in den Brunnen fällt, wofür er von einer barbari-
schen Magd verspottet wird (174 a). Auch am Schlusse des Höhlen-
gleichnisses wird der Zustand jener angedeutet, die aus der Ideen-
schau in diese Welt zurückkehren.
Freilich fehlt es nicht an Unfertigkeiten und sogar an Wider-
sprüchen in den Schriften Platons. Aber teils handelt es sich dabei
wohl um Mängel der Überlieferung, insbesondere um unsere Un-