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rigkeiten, die / sich hier ergeben. „Beim Zeus!“ ruft er daher im
„Sophistes“ aus, „sollen wir uns überreden lassen, daß Bewegung,
Leben, Seele und Einsicht
(
φρόνησις
)
dem auf vollkommene Weise
Seienden
(
τω παντλέως όντι
) in Wahrheit nicht zukomme?“
1
Er stellte damit die Denkaufgabe: das Eine und das Viele, das
Jenseitige und das Einwohnende, das absolut Seiende und das Ver-
änderliche, das in sich Ruhende und das sich Bewegende zu ver-
einigen. Im „Sophistes“ und „Parmenides“ suchte er sie zu lösen.
Es ist richtig, daß er die Eleaten und Heraklit vereinigte, indem er
zeigte: das V i e l e s e i n i c h t d e n k b a r o h n e d a s
E i n e . Aber möglich war ihm dies nur auf dem Grunde der My-
s t i k . Ohne diese ist Platon nirgends zu verstehen. — Die hiermit
begründete „D i a 1 e k t i k“
2
faßte das Sein als Geist, ideenhaft,
und war damit zugleich Ontologie und Logik, ebenso wie später bei
Hegel, der sein ontologisches Hauptwerk „Logik“ nannte.
Damit berühren wir einen Hauptgedanken der Seinslehre Platons,
der in verschiedener Form eine Grundlage jeder Metaphysik ist: der
Gedanke, daß das Nichtseiende in gewissem Sinne sei. Die Wurzel
dieses Gedankens erblicke ich in der Lehre, daß das Apeiron nicht
völlig durchformt sei
3
. Sei dem, wie ihm wolle, in der Unterschei-
dung von vier Prinzipien im „Philebos“ (das Unbestimmte, das Be-
stimmende, das Gemischte, die Ursache oder Gott) liegt notwendig
die ernste Lehre: daß das Unbestimmte, die M a t e r i e , n i c h t
s c h l e c h t h i n n i c h t s e i , s o n d e r n v i e l m e h r z u m
A u f b a u d e r W i r k l i c h k e i t u n e n t b e h r l i c h . Denn
die Wirklichkeit unserer Erfahrung ist nach Platon ein Gemischtes,
in ihr kann daher das Bestimmungslose, Unlogische, Verneinende,
Dunkle nicht entbehrt werden. Und gerade der „Philebos“ ist ja
dem Nachweise gewidmet, daß ein Leben der bloßen Einsicht, ohne
Lust, nicht gelebt werden könne, daß daher die Lust, die an sich
selbst maßlos (weil nur als größer und kleiner faßbar) ist, auch im
geistigsten Leben nicht entbehrt werden könne
4
. Hat man sich ein-
mal mit dieser Lehre vertraut gemacht, dann findet man sie auch
1
Siehe oben S. 215.
2
Platon: Sophistes, 253 d.
3
Platon: Philebos, 30 c.
4
Ähnliches stellen die altindischen Upanishaden „Sein, Denken und W o n n e“
zusammen. — Vgl. z. B. Taittiriya-Upanishad, 2, 1, nach Paul Deussen: Sechzig
Upanishad’s des Veda, 3. Aufl., Leipzig 1921, S. 228.