Table of Contents Table of Contents
Previous Page  5920 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 5920 / 9133 Next Page
Page Background

236

[211/212]

seits ein reines Wesensbild (was man mit dem subjektivierenden Namen „Ideal-

staat“ tadelnd benannte) niemals voll verwirklichbar ist und daher, wenn man so

will, in allen jenen Zügen, in denen die Wirklichkeit hinter ihm Zurückbleiben

muß, „utopisch“ ist, bleibt allerdings wahr. Aber wenn man daran Anstoß

nimmt, dann gibt es überhaupt keinen Lehrbegriff des Staates. Platons Staat ist

in seinem Aufbaue nicht grundsätzlich wirklichkeitswidrig. Will man Mängel

suchen, so können sie nur in Einzelheiten liegen. Zunächst darin, daß seine Stan-

desgliederung für heutige Verhältnisse zu einfach sei. Um dies zu beurteilen,

muß man übrigens bedenken, daß Platon noch mit einem theokratischen Staate,

das heißt einem solchen, in welchem Staatsführer und Kirchenführer wesentlich

zusammenfielen, rechnen konnte. Die Großartigkeit des Gedankens der geistigen

Leitung aus der übersinnlichen Ideenbestimmtheit des Staates im Unterschied zum

demokratisch-materialistischen Staate, den er kühn einen „Schweinestaat“

1

nennt,

haben wir schon oben hervorgehoben. Wie hoch Platon selbst diesen seinen Ge-

danken, daß die Weisen, welche die Ideen schauen, herrschen sollen, einschätzte,

beweist der Umstand, daß jener berühmte Satz: „Wenn nicht die Philosophen

Könige in den Staaten werden oder die jetzt Könige und Machthaber Genann-

ten echte und richtige Philosophen ... so gibt es kein Aufhören der Übel für

die Staaten…“

2

genau in der Mitte seines Werkes steht

3

. Die Familienlosig-

keit der Herrscher, bei der übrigens immer zu bedenken ist, um einen wie klei-

nen Kreis es sich dabei handelt, möchte zu den rein begrifflich gestellten, prak-

tisch aber nicht durchführbaren Forderungen gehören; dagegen nicht mehr unbe-

dingt deren mönchische Besitzlosigkeit und Gütergemeinschaft.

Schwieriger steht es um die Frage nach der S t e l l u n g d e s E i n z e l n e n ,

der Persönlichkeit, in Platons Staat. Die Schwierigkeit liegt aber mehr in der

Ideenlehre, nämlich in der Schwäche des Begriffes der „Teilnahme“ des Einzelnen

am Ganzen (des Dinges an der Idee) als in Bau und Leben seines Staates selbst.

Immer wieder ist es, wie sich zeigt, die Kernfrage des Verhältnisses der Jenseitig-

keit und Diesseitigkeit der Idee, die in allen Gestalten der idealistischen Gebäude

auftauchen muß. Diese Frage läßt sich in einer begrifflich ausgebildeten Ganzheits-

lehre eindeutig durch den Begriff der / G l i e d h a f t i g k e i t j e d e s E i n -

z e l n e n , sei es des einzelnen Dinges in der Gattung, sei es des einzelnen Men-

schen in der Gemeinschaft; und ferner durch den Begriff der R ü c k v e r -

b u n d e n h e i t des Gliedes im Ganzen lösen. Das haben wir oben berührt

und an anderen Orten ausführlich gezeigt.

Daß im Aufbau des Platonischen Staates der Einzelne verkürzt oder gar ver-

nichtet wäre, muß entschieden bestritten werden. Beruht doch die Hauptfrage

Platons, die er um keinen Preis fallen läßt und der er selbst die Familie opfert,

gerade darauf: Wie ist der beste Herrscherstand zu bilden? Wie ist zu verhindern,

daß sich untaugliche Führer festsetzen und die Herrscherstellung vererben? Da-

durch wird doch Individualität gebildet, nicht vernichtet! Platon will durch Rassen-

zucht und einen ausgebildeten E r z i e h u n g s g a n g die Auswahl aus der ge-

samten Menge des Volkes sichern, er will die Einzelehe der Herrscher darum

verhindern, damit sie ihre Ämter nicht forterben, sondern immer wieder nur die

Weisen, jene, welche die Ideen zu schauen vermögen, berufen werden. Um wei-

1

Platon: Staat, 372 d.

2

Platon: Staat, 473 d.

3

Wie Wilhelm Andreae: Platons Staatsschriften, Teil 2: Staat, Einleitung,

Jena 295, S. 54 (= Die Herdflamme, Bd 6), entdeckte.