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Das-was-war-Sein), das heißt das Vordem, das vorgegebene Wesen
der Dinge. Der Formbegriff des Aristoteles entspricht der platoni-
schen Idee, doch mit dem Unterschiede, daß (1) die Form einwoh-
nend, nicht jenseitig ist; und demgemäß (2) nur dem Einzeldinge
zukommt, kein Allgemeines, das auch über dem Einzelnen wäre, ist.
Mit auffallender Schärfe bekämpft Aristoteles die Transzendenz (Getrenntheit,
χωριομύς
) der Ideen Platons und deren damit gegebene relativ selbständige Exi-
stenz oder Verdinglichung, Hypostasierung
1
, ohne der von Platon zweifellos auch
gelehrten Immanenz (Parusie) zu gedenken (die zum Beispiel schon in der Materie
als der „Aufnehmenden“ liegt
2
). Den Grund dafür müssen wir wohl in der
tiefsten Geistesanlage des Aristoteles suchen, überall auf die k o n k r e t e Wirk-
lichkeit in Natur und Geist zu gehen. Ihm genügte daher das Allgemeine der plato-
nischen Idee nicht, es schien ihm, so müssen wir es wohl auffassen, das i n d i -
v i d u e l l e S e i n , die konkrete Mannigfaltigkeit nicht zu erklären. Er setzte
dagegen die reine Immanenz der Ideen (Formen) in den Dingen, womit er (1) das
K o n k r e t e , I n d i v i d u e l l e derselben erklären; (2) den Prozeß, die Be-
wegung in der sie begriffen sind, erklären wollte, nämlich als i n n e r e S e l b s t -
e n t f a l t u n g d e r F o r m im Ding; und womit er (3) die Welt nach
t e l e o l o g i s c h e m V e r f a h r e n erklärte, da die entfaltete Form der Zweck
des Prozesses ist.
Dies muß man sich vor Augen halten, um zu verstehen, daß Aristoteles / trotz
der Übernahme des Ideenbegriffes seine Fehde gegen Platon führte: Die An-
w e n d u n g der Ideenlehre auf Natur und Geschichte war es, um die es ihm
ging. Andererseits versteht man von da aus auch die Haltung Platons, welche
durch die Anekdote gekennzeichnet ist, er habe gesagt: „Aristoteles hat gegen
mich ausgeschlagen, wie das Fohlen gegen seine Mutter, wenn sie geboren hat,
ausschlägt.“
3
Zur B e u r t e i l u n g dürfen wir wohl sagen, daß des Aristoteles Bemühun-
gen um die Anwendung der Ideenlehre auf die konkrete Forschung eine groß-
artige Ergänzung Platons bildeten; daß er aber gerade hier dem Platon an meta-
physischem Tiefsinne nachsteht. Geht es doch zuletzt nicht um die begriffliche
Ausprägung der Ideenlehre allein — die Transzendenz, Immanenz oder Teil-
nahme —, sondern um das Verhältnis des Übersinnlichen zum Sinnlichen und des
Übersinnlichen, das heißt der Ideen oder Formen zum Einen, zu Gott! In Gott
aber sind sie W e s e n s m ä c h t e , S c h ö p f u n g s f o r m e n oder wie man
sie sonst bestimmen möge (auch als Gedanken, Ausflüsse oder noch anders). Als
solche sind sie notwendig zugleich t r a n s z e n d e n t , das heißt relativ selb-
ständig, hypostasiert; und auf dieser Grundlage erst ist die I m m a n e n z denk-
bar.
Nicht zuletzt bei Aristoteles selbst tritt diese Konsequenz hervor, und zwar
in der Selbstanschauung Gottes, in der die Welt entsteht. Wodurch? Doch nur
durch die in Gott aufsteigenden „Ideen“, Gedanken — vermittelnde Wesens-
mächte, Wirkensformen! — Sie werden hiermit primär transzendent gedacht.
1
Aristoteles: Metaphysik, XIII, 4, 3, 10 und öfter.
2
Vgl. Platon: Timaios; Philebos.
3
Diogenes Laertius, V, 2.