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Neben der angeführten Grundbedeutung, wonach Möglichkeit der Stoff, Wirk-

lichkeit die Form ist, gibt es noch andere Bedeutungen, die sich öfters störend in

die Grundbedeutung einmischen. Unterscheidet man nämlich zwischen der noch

nicht ins Dasein getretenen Form und der im Dasein befindlichen, so erscheint die

erstere als Inbegriff von Möglichkeit, die letztere als Wirklichkeit. Die noch nicht

verwirklichte Form ist also hier „Möglichkeit“, trotzdem Form grundsätzlich

„Wirklichkeit“ ist. (Ebenso wie bei Platon die Idee das seiende, also das voll-

wirkliche Sein ist.) — Eine weitere Abwandlung der Begriffe Wirklichkeit und

Möglichkeit liegt darin, daß auch innerhalb der sinnfälligen Welt (also innerhalb

der Stofflichkeit) Möglichkeit und Wirklichkeit nur verhältnismäßig, und zwar in

Form einer Stufenleiter auftreten. Das Samenkorn ist der Baum der Möglichkeit

nach, der Baum die Wirklichkeit des Samenkornes, das Holz des Baumes ist das

Haus der Möglichkeit nach, das Haus ist das Holz der Wirklichkeit nach (durch

dessen Verwendung als Balken). Was aber Möglichkeit ist, verhält sich wie der

Stoff: so ist der Same der Stoff des Baumes; der Baum die Form

(

μοςφη

,

Idee);

der Balken der Stoff des Hauses, das Haus die Form des Balkens.

Alle diese Bedeutungen lassen sich auseinanderhalten, wenn man die Gebun-

denheit der Form „Vermögen“ im t ä t i g e n Sinne nennt, die bloße Aufnahms-

fähigkeit der Materie aber „Möglichkeit“ im e r l e i d e n d e n Sinne. Das (tätige)

Vermögen kommt dann immer nur der Form zu, sei es in ihrem ausgewirkten, sei

es in ihrem noch nicht ausgewirkten Zustande, die (erleidende) Möglichkeit im-

mer nur der Materie, sei es auf niederer, sei es auf hoher Stufe der Wesen

1

.

Da nur Gott lautere Wirklichkeit, actus purus, ist

2

, so bleibt in

der sinnlichen Welt noch Unwirklichkeit, Möglichkeit zurück, das

heißt in ihr ist Möglichkeit und Wirklichkeit gemischt. Und eben

das ist das Werden. Werden ist also ein Zwischenzustand, in wel-

chem die V e r w i r k l i c h u n g der Form unterwegs ist

3

.

Aristoteles lehrt weiter: „D a s W i r k l i c h e i s t v o r d e m

M ö g l i c h e n“, denn nur das wirkliche Pferd, sagt er, erzeuge

ein Pferd. Indessen ist unseres Erachtens dieser berühmte Satz, der

die Bewegung erklären soll

4

, nur g e n e t i s c h richtig, dem

W e s e n nach aber unrichtig. Dem Wesen nach gilt vielmehr: das

Mögliche, welches eine Wirklichkeit / höherer Ordnung ist (die

noch nicht verwirklichte Form), ist vor dem — sinnfällig — Wirk-

lichen

5

.

Weitere ontologische Sätze ersten Ranges, die Aristoteles auf-

stellt, sind: das Vollkommene ist vor dem Unvollkommenen

6

und:

1

Aristoteles: Metaphysik, V, 12.

2

Siehe oben S. 239.

3

Platons Lehre vom Chaos, siehe oben S. 224.

4

Siehe oben S. 243.

5

Den Nachweis hiefür siehe in meinem Buch: Der Schöpfungsgang des

Geistes, 2., durchgesehene Aufl., Graz 1969, S. 92 ff. (= Gesamtausgabe Othmar

Spann, Bd 10).

6

Siehe oben S. 240.