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[223/224]

Es ist merkwürdig, daß sich in dem reichen Schrifttume über Aristoteles die

Erklärer so wenig über diesen entscheidenden Punkt äußern. Das lehrreichste

Beispiel scheint uns K a r l v o n P r a n t l in seiner sorgfältigen Untersuchung

„Über die Entwicklung der Aristotelischen Logik aus der Platonischen Philo-

sophie“

1

zu bilden. Wenn er findet, daß es im wesentlichen der Übergang von

der Potenz des Erkennens (der „Form“ in der Seele) zum Actus, zum wirklichen

Gedanken, sei, worin das Letzte der Aristotelischen Erkenntnislehre liege, und

sagt, daß „ d a h e r d i e P l a t o n i s c h e A n a m n e s i s l e h r e w e g -

f ä l l t “ (46) — so frage ich, wieso „daher“ die Anamnesislehre wegfalle, wieso

nicht vielmehr umgekehrt darauf hingeführt werde? Denn das Grundsätzlichste

der Anamnesis ist ja gerade: die „Aktuierung der Form“, Aristotelisch gesprochen;

die Weckung der Idee, Platonisch gesprochen! Nach Aristoteles liegt die Form in

uns, nach Platon liegt die „Idee“ gebunden in uns. Wo ist da der Unterschied?

Wenn Aristoteles sagt: Nur das Aktuelle sei erkennbar: nur das geistig Wirkliche,

das aktuell Intelligible könne von unserem Geist aus erkannt werden — so liegt

doch gerade darin ein unverkennbarer Hinweis auf die innere Schau oder Wieder-

erweckung der reinen Form, / als im Verlaufe des Erkennens liegend. Gerade

weil die sinnlichen Dinge nicht geistige Wirklichkeit (nicht aktuell intelligibel)

sind, gerade darum fordert Aristoteles eine eigene geistige Kraft in uns, die die

sinnlichen Vorstellungen geistig macht (aktuell intelligibel macht) — den sogenann-

ten t ä t i g e n V e r s t a n d (den

νούς ποιητικός

,

von der Scholastik intel-

lectus agens genannt

2

). — Dort scheint mir der ausdrückliche Hinweis auf Platons

„Menon“: „ M a n l e r n t e n t w e d e r n i c h t s o d e r w a s m a n w e i ß “ ,

nicht abweisend, vielmehr zustimmend zu klingen. Aristoteles leugnet nicht die

ideenhafte Erinnerung und behauptet sie auch nicht, für ihn ist der Vorgang der

A k t u a l i s i e r u n g der Form in der Seele wesentlich. Was man lernt, weiß

man, insoferne schon virtuell z u v o r als in dem bewußten aktualisierten All-

gemeinen das Besondere der Möglichkeit nach enthalten ist.

Andrerseits soll nicht verschwiegen werden, daß auch Widersprechendes bei

Aristoteles nicht fehlt. Die reine Allgemeinheit soll nur P r ä d i k a t , nicht Sub-

stanz sein

3

, aber das steht im Widerspruche zu seiner Lehre, daß das Allgemeine

das Frühere sei. Auch müßte dann das höhere Allgemeine (die Gattungen und

Arten) vor dem niederen Allgemeinen (den Einzelwesen) sein und dieses erstere,

das Allgemeine, dürfte nicht, wie Aristoteles öfters sagt, „zweite Substanz“

(

ούσία δεντέρα

)

sein, während das Einzelne „erste Substanz“

(

ούοία πρωτή

)

sei.

Diese, im Immanenzbegriffe begründete Lehre, daß nur das Einzelwesen

Substanz, Usia, sei

4

, muß unseres Erachtens geradezu als die crux des Aristoteli-

schen Begriffsgebäudes bezeichnet werden. Denn nun hat das Allgemeine kein

eigenes Sein mehr, der A l l g e m e i n b e g r i f f k e i n e s e l b s t ä n d i g e

G r u n d l a g e . Daß das Einzelwesen allein Substanz sei, „erste Substanz“, ist

unseres Erachtens ein entschieden n o m i n a l i s t i s c h e r Z u g in der Logik

des Aristoteles. Er führt auch, zu Ende gedacht, insoferne zur Vernichtung des

Begriffes der Form, als dann jede Form nur im Einzeldinge, also nur je für sich

bestünde; es also kein Reich der Formen, keine „Gemeinschaft der Ideen“ gäbe!

1

Karl von Prantl: Über die Entwicklung der Aristotelischen Logik aus der

Platonischen Philosophie, München 1853, S. 46 ff.

2

Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 9, 10; Nikomachische Ethik, 1141 a; de anima,

III, 5; analytica posteriorum, I, 1, 71 a, 24.

3

Aristoteles: Metaphysik, 1030 b, 23, 1053 b.

4

Siehe oben S. 243.