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Was einer Lösung im Sinne der Erinnerungslehre bei Aristoteles entgegensteht,
liegt unseres Erachtens keineswegs in seiner Erkenntnistheorie selbst, sondern in
der Ablehnung aller Jenseitigkeit der Idee, wodurch die „Erinnerung“ (wenn sie
nicht bloß ein Sinnbild sein soll) an frühere Ideenschau natürlich ausgeschlossen
ist. Nicht ausgeschlossen ist aber das Enthaltensein aller Formen in der Seele.
N i c h t s a n d e r e s a l s d i e H e r a u f h o l u n g , d i e V e r w i r k l i -
c h u n g d e r F o r m e n a u s d e r S e e l e i s t i m G r u n d e b e i A r i -
s t o t e l e s d a s E r k e n n e n . Und in diesem Hauptpunkte trifft er mit Platon
ebenso zusammen, wie Fichte mit beiden.
b.
Gesellschafts- und Staatslehre
In der Gesellschafts- und Staatslehre vertritt Aristoteles mit Ein-
schränkungen und Abschwächungen einen ähnlichen Standpunkt,
wie ihn Platon im „Staat“ begründete und nähert sich dadurch Pla-
tons „Gesetzen“
1
. Der Zug zur Erfahrung, das genauere Eingehen
auf die gegebene Wirklichkeit ist ein Vorteil, hemmt aber offen-
sichtlich die große Synthese.
/
c.
Sittenlehre
In der Sittenlehre lehrt Aristoteles den Vorzug des schauenden
(theoretischen) vor dem praktischen Leben. Denn Gott lebt in
Selbstanschauung, Denken des Denkens. Was im Menschen Wert hat,
ist nur das höhere geistige Leben des Weisen und Gerechten. Der
Zweck des Menschen ist also nicht Lust, sondern vernunftgemäße
Tätigkeit. Die ganze menschliche Gesellschaft hat wieder das Leben
der Weisheit zum Ziele. Auch hierin trifft Aristoteles mit Platon
zusammen. Ebenso darin, daß der letzte Grundzug aller Sittlichkeit
Verähnlichung mit Gott sei, wie ja das Ideal des theoretischen Le-
bens beweist. Das ganze diesseitige Leben ist um des jenseitigen
willen da. Und das jenseitige Leben ist ein Teilnehmen an der Er-
kenntnis Gottes. — Die Tugend sieht Aristoteles in der r e c h t e n
M i t t e zwischen Übermaß und Mangel. In seiner Sittenlehre sind
im übrigen utilitaristische Züge nicht zu verkennen, was abermals
dem Gedanken der Einwohnung der Idee entspricht.
Da Gottes Selbsterkennen zugleich Freude und Liebe ist, so wohnt
in jedem Geschöpf ein Zug zu G o t t
2
.
1
Siehe oben S. 221 f.
2
Siehe oben S. 240, unten S. 259.