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der Lohn (nämlich der richtige Lohn) bestimmt, was als Existenz-
minimum anzusehen und welche Lebenshaltung einzuhalten sei.
Es ist die jeweilige Gliederung der Mittel einer Volkswirtschaft
(darin besonders das Verhältnis von Kapital und Arbeit), was den
Lohn zu einer D u r c h s c h n i t t s p o r t i o n gestaltet, die der
Arbeiter als Anteil am Gesamteinkommen der Welt- und Volks-
wirtschaft erhält. (Der Lohn ist dabei um so höher, je mehr v o r -
g e o r d n e t e Leistungen die a u s f ü h r e n d e Arbeit auswirkt
1
.)
Praktisch zeigt sich gegen Ricardo die B e e i n f l u ß b a r k e i t des
Lohnes. Wenn die Arbeiter sich in Zünften und in Gewerkschaften orga-
nisierten, wenn der Staat durch sozialpolitische Gesetze zugunsten der
Arbeiter eingreift, vermag er den Arbeitern einen größeren Anteil am
Volkseinkommen zu sichern. Ricardo hat selbst betont, daß es das her-
kömmliche Maß der Lebenshaltung, „Standard of life“, nicht aber das
physiologische Existenzminimum sei, auf das sich der Lohn gründe (wo-
mit er allerdings seinem preistheoretischen Grundbegriffe der Wieder-
herstellungskosten widerspricht). Daß S o z i a l p o l i t i k m i t E r f o l g
p r a k t i s c h m ö g l i c h i s t , b e d e u t e t d i e g e s c h i c h t l i c h e
W i d e r l e g u n g d e s e h e r n e n L o h n g e s e t z e s .
G e s c h i c h t l i c h ist ein allmähliches und stetes Aufsteigen des
Arbeiterstandes in allen Großgewerbeländern deutlich nachweisbar
2
. /
δ . P r o f i t l e h r e
Nach Ricardo wird der Arbeitsgehalt der Kapitalgüter auf die
Erzeugnisse nur übertragen, z. B. eine Maschine, die 1000 Arbeits-
stunden enthält und nach Erzeugung von 1000 Stücken verbraucht
ist, überträgt je 1 h auf 1 Erzeugnis. Das Kapitalgut ist also zwar,
so drückte man das später aus, „technisch“ fruchtbar, aber nicht
„werterzeugend“, denn wenn dieselbe Maschine 2000 Erzeugnisse
herstellte, ginge diesem Gedankengange zufolge in jedes einzelne
nur
1
/
2
h, in die Gesamtheit wieder nur 1000 h, ein; daher (welche
Folgerung Ricardo allerdings nicht selbst zog) ergibt sich, daß der
Kapitalgewinn oder Profit nicht aus dem Kapital stammen kann,
sondern nur als Uberschuß oder R e s t neben Lohn und Kapital-
ersatz besteht
3
. — Hierin liegt aber: 1. eine Lehre von der Un-
1
Vgl. unten S. 221.
2
Vgl.: W. J. Ashley: Das Aufsteigen der arbeitenden Klassen Deutsch-
lands im letzten Vierteljahrhundert, ins Deutsche übertragen von
P. Scharf, Tübingen 1906. — Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus,
Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschafts-
lebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 4 Bde, 6. Aufl., München
1924—1927.
3
Siehe oben S. 99 f.