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z. B. Bewegung und Ruhe (Nicht-Bewegung), zeitlich — ewig, verneinen einander
in dem genauen Sinne, daß zwischen ihnen nicht nur kein Mittleres möglich ist
(nach dem alten Satz: Zwischen zwei kontradiktorischen Gegensätzen ist kein
Mittleres), sondern ü b e r h a u p t k e i n B e z u g s t a t t f i n d e n k a n n .
Gäbe es absolute Zeitlichkeit, die absoluter Ewigkeit gegenüberstände, so könnte
Zeitlichkeit überhaupt nicht sein oder Ewigkeit überhaupt nicht gedacht werden.
Auch Ruhe ist nur vergleichsweise Bewegungslosigkeit, absolute Bewegungslosig-
keit kann weder sein noch gedacht werden. D a r u m g i b t e s i n W a h r -
h e i t k e i n e S y n t h e s i s k o n t r a d i k t o r i s c h e r G e g e n s ä t z e . Gäbe
es sie, dann wäre die Synthesis der Oberbegriff, welcher zwei n e b e n g e o r d -
n e t e Gegensätze umfaßt — dann wären es aber schon keine kontradiktorischen,
sondern — konträre Gegensätze. In Wirklichkeit sieht man denn auch, daß das
d i a l e k t i s c h e V e r f a h r e n ü b e r a l l m i t k o n t r ä r e n G e g e n -
s ä t z e n a r b e i t e t , niemals mit kontradiktorischen. Wo ist z. B. in der dialek-
tischen Reihe Hegels „Familie — bürgerliche Gesellschaft — Staat“ ein ausschließen-
der Gegensatz? Oder wo im Falle „Natur — Geist“, da doch nach der Naturphilo-
sophie die Natur selbst eine Stufe oder ein anderes Sein des Geistes ist? usw. Wir
wiederholen also, daß die Dialektik in Wahrheit überall nur mit Gegensätzen,
die einen gemeinsamen Oberbegriff haben, arbeitet, niemals mit rein kontradikto-
rischen Gegensätzen (deren B e g r i f f schon in Wahrheit unvollziehbar ist, da-
her in der Logik nur eine pädagogische, keine ontologische Wahrheit hat). —
Wird aber das zugestanden, dann ist die Dialektik als Verfahren praktisch fast
entwertet: D e n n d a n n v e r l i e r t s i e i h r e d e d u k t i v e K r a f t .
Bloß konträre Gegensätze, nebengeordnete (wie z. B. rot, grün, blau, gelb als
Gegensätze der Farben) lassen sich nicht ableiten, die ableitend-entwerfende Art
des dialektischen Verfahrens ginge dadurch verloren.
Uber die Schwierigkeit: daß sich (a) zwar A und Non-A als kontradiktorische
Widersprüche a b l e i t e n d b e h a n d e l n , aber nicht ineins setzen lassen;
daß sie aber, wenn sie (b) beide Glieder einer höheren Ganzheit wären, dann
wieder nur k o n t r ä r e Gegensätze — nicht kontradiktorische wären — über /
diese Schwierigkeit kommt das dialektische Verfahren nie hinaus. Der S c h e i n
d e r A b l e i t u n g i n d e r D i a l e k t i k w i r d i n W a h r h e i t n u r
d a d u r c h e r r e i c h t , d a ß h e i m l i c h d i e o b e r s t e G a n z h e i t
g e s e t z t
u n d
d e r e n
g l i e d h a f t e
U n t e r s c h i e d e
a u f g e -
s u c h t w e r d e n : gliedhafte Unterschiede, Spannungen zwischen Gliedern
einer Ganzheit, nicht aber ausschließende Gegensätze sind es, mit denen die dialek-
tischen Ableitungen in Wahrheit arbeiten!
Das was sich hinter der Dialektik verbirgt, ist demnach, um es zusammenzufas-
sen: zuerst der unbewußt und heimlich verwendete Begriff der Ganzheit mit ihren
Gliedern (als der wahren Einheit oder „Synthesis); sodann der Unterschied der
Glieder, der in Wahrheit kein ausschließender Gegensatz ist und aus dem sich
auch die „Entwicklung“ nicht ergibt, sondern der die gliedhaften Spannungen
zwischen den Teilen des Ganzen angibt. — Dem entspricht es, daß die Dialektik
in Wahrheit eine G e f ü g e l e h r e ist, demgemäß auch nicht eine Lehre von der
zeitlichen Abfolge der Setzungen, der G e s c h i c h t e oder „Entwicklung“. Die
Kategorienlehre Hegels ist auch ausdrücklich als Gefügelehre der Welt und nicht
als ihre Geschichte gedacht.
Sind diese unsere Einwände richtig, und gibt es (a) keine unbedingte Notwen-
digkeit der Entzweiung in Gegensätze (die gibt es nur im Falle der Unvollkom-
menheit); (b) wie gezeigt, keine Synthesis von „Gegensätzen“ (die doch nur als