[277]
311
B .
B e n e d i c t u s S p i n o z a (1632—1677)
1
Dem Descartes ähnlich begann Spinoza die Philosophie mit einem
obersten Begriff, dem Begriffe der „absoluten Substanz“. Descartes
hatte drei Substanzen, das Subjekt, die Natur und Gott. In seinem
Gottesbegriffe hatte Descartes eigentlich schon mit der absoluten
Substanz gearbeitet. Aber die Frage, wie der Begriff der Substanz
gedacht werden müsse, was aus diesem als Prinzip folge, wurde
nicht behandelt, und gerade sie kann man als die logisch-metaphy-
sische Grundfrage Spinozas bezeichnen. Denken und Ausdehnung,
das ist Spinozas grundsätzliche Antwort, sind nicht zwei Substanzen
(wie bei Descartes), sondern nur noch die unendlichen „Attribute“
der einen Substanz, die Gott ist. Die Erscheinungsformen von Den-
ken und Ausdehnung, nämlich die Dinge und Gedanken (res und
ideae) sind die „Modi“ der Attribute. Die endlichen Dinge gehen
aus Gott nach Notwendigkeit hervor, nach derselben Notwendigkeit
wie aus der Idee des Dreiecks alle die Eigenschaften folgen, welche
die Geometrie an dem Dreiecke nachweist.
Folgende Lehrbegriffe kennzeichnen darnach unseres Erachtens
Spinozas Gebäude: (1) ein naturalistischer Pantheismus, Gott ist
selbst die „ausgedehnte Substanz“. Gott hat kein Sein für sich, ist
unbestimmbar („omnis determinatio est negatio“), die Welt hat kein
Sein für sich, sondern ist nur Attribut und Modus des Absoluten;
(2) das Göttliche ist ein U n p e r s ö n l i c h - A l l g e m e i n e s ,
dessen Erscheinungsformen mit geometrischer Notwendigkeit sich
ergeben, Persönlichkeit, Freiheit, Unsterblichkeit haben hier keinen
Platz; (3) die Natur ist wie bei Descartes mechanisiert und mathe-
matisiert; (4) die Sittenlehre ist empiristisch (durch Determination,
also Leugnung des Bösen); (5) die Rechts- und Staatslehre ist indi-
vidualistisches Naturrecht; (6) auch die „geometrische Notwendig-
keit“ ist schließlich nichts anderes als eine Übertragung des V e r -
f a h r e n s d e r P h y s i k auf die Philosophie.
Damit hätten wir e m p i r i s t i s c h e B e s t a n d t e i l e im Gottesbegriff
(als pantheistisch), im Naturbegriff (als mechanisch), im Sittlichkeits-, Rechts- und
1
Benedictus Spinoza: Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt, 1677,
übersetzt von Otto Baensch, 6. Aufl., Leipzig 1905 (= Philosophische Bibliothek,
Bd 92); Theologisch-politischer Traktat, 1670, übertragen von Carl Gebhart,
4. Aufl., Leipzig 1922 (= Philosophische Bibliothek, Bd 93).