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363

3.

Das Erste der Mystik ist das Leben, nicht die Lehre. Die Mystik

ist Weisheit und Lebenskunst. Das Wesentliche der Lebenskunst

ist die Versenkung in Abgeschiedenheit. „Besser wäre ein Lebe-

meister denn tausend Lesemeister“, sagt Meister Eckehart. — Da der

Mensch im schauenden Leben nicht verharren kann, muß er immer

wieder in das tätige Leben zurückkehren. Aber das tätige Leben ist

ebenfalls aus dem Punkte der Schauung zu bestimmen. Was der

Mensch im Schauen ansammelt, wird im Handeln fruchtbar. (In der

östlichen Mystik kann dieses Handeln geistig bleiben, ist aber den-

noch ein Handeln.)

Hiermit ist auch bereits das Verhältnis der mystischen zur ideali-

stischen Philosophie bestimmt: Das Grundgerüst der Fragestellun-

gen, Denkaufgaben und Lösungen ist bei der Mystik dasselbe wie

beim Idealismus. Beiden ist das Übersinnliche am Grunde aller

Dinge. Gotteslehre, Vermittlungslehre, Seinslehre, Geisteslehre, Na-

turlehre ist daher genau so der wesentliche Inhalt der Mystik wie

des Idealismus. Aber das persönliche Verhältnis des Menschen zu

Gott steht beim Mystiker überall vor dem Verhältnis Gottes zur

Welt. Beim Mystiker liegt der Schwerpunkt nicht in der begriff-

lichen Entfaltung und Begründung der Weisheit, sondern in der Er-

langung des Erlebnisses. Auch die größten Mystiker sehen wir in der

begrifflichen Entfaltung der Philosophie nicht eigentlich voran-

schreiten, sondern anderen nachfolgen. Die Neuplatoniker folgten

Platon und Aristoteles nach, die mittelalterlichen Mystiker der

Scholastik; Paracelsus und / Jakob Böhme brachten es nur teil-

weise zu einer begrifflich durchgearbeiteten Philosophie.

Um die Lehren der Mystik darzustellen und zu verstehen, bedarf

es wegen der beherrschenden Stellung des Erlebnisses eines anderen

Weges als desjenigen, der bisher eingeschlagen wurde. Nicht so sehr

nach Lehrbegriffen ist zu fragen, an den inneren Weg, an die „Le-

benskunst“ müssen wir uns halten. Alle Mystiker waren erleuchtete

Männer und ihre Lehren können nicht gewürdigt werden, wenn

man ihrem Erleben nicht folgt. Von der empiristischen oder auch

rationalistischen Erlebnisschichte, das heißt von den vermittelnden

Begriffen her können sie nicht einmal verstanden werden.

Über die inneren Erfahrungen und Erlebnisse der Mystik selbst

zu sprechen, ist hier der Ort nicht; ebensowenig über den Gang

der „Lebenskunst“, den Weg zur Erleuchtung. Dieser wurde die