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Das Erste der Mystik ist das Leben, nicht die Lehre. Die Mystik
ist Weisheit und Lebenskunst. Das Wesentliche der Lebenskunst
ist die Versenkung in Abgeschiedenheit. „Besser wäre ein Lebe-
meister denn tausend Lesemeister“, sagt Meister Eckehart. — Da der
Mensch im schauenden Leben nicht verharren kann, muß er immer
wieder in das tätige Leben zurückkehren. Aber das tätige Leben ist
ebenfalls aus dem Punkte der Schauung zu bestimmen. Was der
Mensch im Schauen ansammelt, wird im Handeln fruchtbar. (In der
östlichen Mystik kann dieses Handeln geistig bleiben, ist aber den-
noch ein Handeln.)
Hiermit ist auch bereits das Verhältnis der mystischen zur ideali-
stischen Philosophie bestimmt: Das Grundgerüst der Fragestellun-
gen, Denkaufgaben und Lösungen ist bei der Mystik dasselbe wie
beim Idealismus. Beiden ist das Übersinnliche am Grunde aller
Dinge. Gotteslehre, Vermittlungslehre, Seinslehre, Geisteslehre, Na-
turlehre ist daher genau so der wesentliche Inhalt der Mystik wie
des Idealismus. Aber das persönliche Verhältnis des Menschen zu
Gott steht beim Mystiker überall vor dem Verhältnis Gottes zur
Welt. Beim Mystiker liegt der Schwerpunkt nicht in der begriff-
lichen Entfaltung und Begründung der Weisheit, sondern in der Er-
langung des Erlebnisses. Auch die größten Mystiker sehen wir in der
begrifflichen Entfaltung der Philosophie nicht eigentlich voran-
schreiten, sondern anderen nachfolgen. Die Neuplatoniker folgten
Platon und Aristoteles nach, die mittelalterlichen Mystiker der
Scholastik; Paracelsus und / Jakob Böhme brachten es nur teil-
weise zu einer begrifflich durchgearbeiteten Philosophie.
Um die Lehren der Mystik darzustellen und zu verstehen, bedarf
es wegen der beherrschenden Stellung des Erlebnisses eines anderen
Weges als desjenigen, der bisher eingeschlagen wurde. Nicht so sehr
nach Lehrbegriffen ist zu fragen, an den inneren Weg, an die „Le-
benskunst“ müssen wir uns halten. Alle Mystiker waren erleuchtete
Männer und ihre Lehren können nicht gewürdigt werden, wenn
man ihrem Erleben nicht folgt. Von der empiristischen oder auch
rationalistischen Erlebnisschichte, das heißt von den vermittelnden
Begriffen her können sie nicht einmal verstanden werden.
Über die inneren Erfahrungen und Erlebnisse der Mystik selbst
zu sprechen, ist hier der Ort nicht; ebensowenig über den Gang
der „Lebenskunst“, den Weg zur Erleuchtung. Dieser wurde die