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Jahrtausende hindurch überall als Geheimnis behandelt. Äußerlich
sichtbar sind nur die großen Abteilungen dieses Weges, der überein-
stimmend als: Weg der Reinigung, Via purgativa, Weg der Be-
trachtung oder Beschauung, Via meditativa oder contemplativa und
Weg der Einigung, Via unitiva, geschildert wird. Der Hauptgrund-
satz der Versenkungskunst wird übereinstimmend von der Bhaga-
vadgita und von Patanjali
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als „die Anhaltung des Gedankens“,
von Meister Eckehart als „Leermachen“ des Bewußtseins bezeichnet.
II. Selbsterkenntnis
(Das „Fünklein“)
Das Erste, was jeder verstehen muß, der in die Mystik eindringen
will, ist die Bedeutung des „Erkenne Dich selbst“. „Erkenne Dich
selbst“, stand über dem Tempel zu Delphi und das deutet untrüglich
auf mystische Lehren hin. Selbsterkenntnis ist der Weg zur Auf-
schließung der inneren Natur des Menschen, zum „Fünklein“.
Wer im „Fünklein“ ein bloßes Bild oder gar ein bloßes Erzeugnis
der Einbildungskraft und begrifflichen „Spekulation“ sieht, der lege
lieber alle mystischen Bücher beiseite. Je mehr der Mensch in der
Erkenntnis seiner selbst fortschreitet, um so mehr wird er von der
Mannigfaltigkeit der seelischen Erscheinungen auf ihre innere
Ein- / heit, ihre Wurzel hingewiesen. Die idealistische Philosophie
ist in gewissem Sinne nichts anderes als die Ausführung des „Er-
kenne Dich selbst“, indem sie nämlich zuerst von der empiristischen
Zergliederung der menschlichen Seelenerfahrung zum Apriori vor-
dringt; und sodann vom Apriori zur Selbstsetzung, das heißt zur
Einheit der Mannigfaltigkeit des Apriori, die sich als das Wunder
der Spontaneität zeigt.
Diese Selbstsetzung faßt bereits das Innere des Menschen an sei-
ner Wurzel, dort, wo es aus nichts anderem mehr entspringt, son-
dern seine eigene Tat, seine eigene Ursache ist. Damit ist schon auf
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Bhagavadgita, VI, 12 und öfter, nach Paul Deussen: Sechzig Upanishad’s
des Veda, 3. Aufl., Leipzig 1921. — Die Yoga-Aphorismen des Patanjali, deutsch
von Wilhelm Oppermann, 2. Aufl., Leipzig 1925; deutsch auch von Paul Deussen:
Die nachvedische Philosophie der Inder, 4. Aufl., Leipzig 1922, S. 511 ff.