[326/327]
367
Weil der Grund der Seele Gott verwandt ist, ist auch die Seele un-
ergründlich. „Menschliche Kunst kommt nimmer dahin, was die
Seele ist, zu erkennen. Dazu gehört übernatürliche Ku n s t . . . Was
die Seele in ihrem Grunde sei, das weiß niemand.“
1
Zweitausend
Jahre früher sagte Herakleitos: „Geh hin: der Seele Grenzen fin-
dest / Du nicht, auch wenn Du alle Straßen wanderst; so tief reicht
ihr vernünftiges Wesen.“ Ebenso die altindische Bhagavadgita (zum
Beispiel V, 6; V, 16 und öfter) und die Upanishaden.
Die Mystik findet immer wieder dieselben Urlaute. Das macht,
daß sie immer aus derselben Quelle der inneren Erfahrung schöpft.
Töricht ist es von der Geschichtsschreibung, hier Abhängigkeit,
Überlieferung zu suchen. Ohne eigene Erlebnisse der Meister wür-
den die Überlieferungen bald nicht mehr verstanden werden und
versiegen.
Das Ganze der Lehre von der Selbsterkenntnis als einer Selbst-
vertiefung in den göttlichen Grund der Seele, ist zusammengefaßt
in den Worten des Angelus Silesius:
„Mensch, bleib doch nicht ein Mensch! Man muß aufs Höchste kommen.
Bei Gotte werden nur die Götter angenommen.“
III.
Die begrifflichen Formen der Mystik
Die Richtungen der Mystik sind zumeist dadurch gekennzeich-
net, daß die denkerische Ausarbeitung der Lehre im Vergleich zur
Ausübungskunst entweder ganz zurücktritt oder doch zum Teile.
Man pflegt von „spekulativer Mystik“ zu sprechen, wo die begriff-
liche Lehre soweit herausgearbeitet wird, daß es zu einem Begriffs-
gebäude kommt; dagegen von einer „praktischen Mystik“, wo die
planmäßige Ausarbeitung der Lehrbegriffe unterbleibt. Lehrbegriff-
lich ausgearbeitete Mystik haben wir zum Beispiel bei den Indern,
bei Platon, bei den Neuplatonikern, Meister Eckehart, Baader, bei
Fichte und Schelling (in deren Spätlehre); eine praktische Mystik
bei den Heiligen, zum Beispiel dem hl. Franziskus, Bernhard von
Clairveaux, der hl. Theresia, Johannes vom Kreuz oder bei echten
Theosophen wie van Helmont und J. Kerning.
1
Meister Eckhart, S. 228, Zeile 15 und 19.