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herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit,

bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis

erblicke, welche auf ein Schönes folgender Art geht. Hier aber, sprach sie, bemühe

dich nur, aufzumerken so sehr du kannst. Wer nämlich bis hieher in der Liebe

erzogen ist, das mancherlei Schöne in solcher Ordnung und richtig schauend, der

wird, indem er nun der Vollendung in der Liebeskunst entgegengeht, plötzlich

ein von Natur wunderbar Schönes erblicken, nämlich jenes selbst, o Sokrates, um

deswillen er alle bisherigen Anstrengungen gemacht hat, welches zuerst immer ist

und weder entsteht noch vergeht, weder wächst noch schwindet, ferner auch nicht

etwa nur insofern schön, insofern aber häßlich ist, noch auch jetzt schön und dann

nicht, noch in Vergleich hiermit schön, damit aber häßlich, noch auch hier schön,

dort aber häßlich...; s o n d e r n a n u n d f ü r u n d i n s i c h s e l b s t

e w i g ü b e r a l l d a s s e l b e s e i e n d , a l l e s a n d e r e S c h ö n e a b e r

a n j e n e m a u f i r g e n d e i n e s o l c h e W e i s e A n t e i l h a b e n d ,

daß, wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgendeinen Ge-

winn oder Schaden davon h a t . . . Wenn also jemand, vermittels der echten Knaben-

liebe von dort an a u f g e s t i e g e n , jenes Schöne anfängt zu erblicken, der

kann beinahe zur Vollendung gelangen.“

Hier lehrt Platon, den Weg zur Idee d u r c h d i e D i n g e

h i n d u r c h z u f i n d e n . Denn nicht anders gelangt man zur

Idee des Schönen, die auch die Idee des Guten, das göttliche Wesen

selbst, als indem man von der Schönheit eines Leibes zur Schönheit

aller Leiber, von da zur Schönheit der Seelen, der Bestrebungen, der

Sitten, der Erkenntnisse fortschreitet und schließlich zu dem Schö-

nen an sich

(

αύτό τό καλόν

)

gelangt ./

Der Aufstieg von der Vielheit der Erscheinungen zur Einheit des

Wesens geschieht durch die L i e b e zu den Dingen. Das Wesen der

Dinge ist also nach Platon, daß sie die Dinge nicht um ihrer selbst

willen, sondern um des Höheren, Ideenhaften willen liebt, das sie

verkörpern

1

.

Das Ergebnis der Platonischen Aufstieglehre ist: Teilnahme an

der Idee. Im Aufstieg wird das Innewerden, die geistige Schau

immer höherer Ideen erreicht. Das Höhlengleichnis, als Darstellung

der Verzückung verstanden, gibt uns dazu weitere Hinweise

2

.

2.

Die G e s e l l s c h a f t s - u n d S i t t e n l e h r e

Von der Platonischen Aufstieglehre aus ist es leicht zu verstehen,

daß jede mystische Sittenlehre in der Vergottung gipfelt. Zwei Ge-

1

Platon: Phaidros, oder Vom Schönen, in der Übersetzung von Friedrich

Schleiermacher neu herausgegeben von Curt Woyte, Leipzig 1915, 251 a und

öfter (= Reclams Universalbibliothek, Bd 5789).

2

Siehe oben S. 218 ff.