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10. „Swer diese predie hât verstanden, dem gan (gönne) ichz wol. Wêre hie
nieman gewesen, ich müeste sie diesem stocke geprediet hân. Ez sint etliche arme
liute, die kêrent wider heim und sprechent: ich wil sitzen ûf eine stat und ezzen
min brôt unde dienen gote. Ich spriche bî der wârheit, daz diese lizte müezent
verirret blîben noch niemer mügent ervolgen (erreichen) noch erkriegen, daz die
andern ervolgent, die gote nach volgent in armüete und in ellendekeit. Amen.“
1
Erläuterung. Denkwürdig sind die Anfangsworte dieses Abschlus-
ses und ein Zeichen untrüglicher Echtheit. In ihnen zittert die Er-
schütterung einer ungeheuren Eingebung nach (vergleichbar dem
Nachgesange nach den Zauberglöckchen in Mozarts „Zauberflöte“:
„Könnte jeder brave Mann solche Glöckchen finden“, I, Nr. 8).
In gesellschaftsphilosophischer Hinsicht ist die Einteilung der
Menschen wichtig, welche mittelbar in der Kennzeichnung jener
Leute gelegen ist, die auf ihrer Stätte sitzen, ihr Brot essen und
nicht weiterstreben. Wahrlich, diese Leute müssen „verirret blei-
ben“, ein Wort, das man sich für die Beurteilung der Gesellschafts-
philosophie der Mystik merken muß. So hoch in das Geistesleben
hinauf, wie die Mystik strebt, ist, wie man sich heute ausdrücken
würde, die „soziale Frage“ unlösbar.
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2. Die G e s e l l s c h a f t s - u n d S i t t e n l e h r e
M e i s t e r E c k e h a r t s
a. Gott, All, Gesellschaft
Nachdem wir mit der Lehre vom Fünklein das Wesentlichste der
menschlichen Geisteslehre Meister Eckeharts vorweggenommen ha-
ben
2
, wenden wir uns sogleich der Gesellschafts- und Sittenlehre
zu. Zu dieser gelangen wir aber nur auf Grund jener Unterscheidun-
gen, die Eckehart schon in der Gotteslehre macht. Denn der Mensch
ist ein Ebenbild Gottes, daher auch Gemeinschaft und Sittlichkeit
dadurch bestimmt werden. Folgende Unterscheidungen kann man
aus Eckehart herauslesen:
G o t t h e i t
G o t t
G o t t a l s S c h ö p f e r
(wirkt nicht, in ihr ist
(in der Selbstentfaltung und Erhalter der Welt
kein Werk)
der drei Personen, das ist
das innergöttliche Leben)
1
Meister Eckhart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, S. 181,
Zeile 19—25.
2
Siehe oben S. 364 ff.