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Ursprüngliche, Arteigene, ebenso wie das Notwendige und in sich selbst noch

Unbestimmbare des übersinnlichen Bewußtseins aus dem ganzheitlichen Lehr-

begriffe ungezwungen erklären. Denn dieser gibt im Aufbau des menschlichen

Bewußtseins aus inneren Leistungsschichten oder Stufen, wie sich zeigte, von

selbst die nötigen Begriffsmittel an die Hand.

Jeder Versuch einer Ableitung scheitert. Warum soll auch das Religiöse

gerade aus bestimmten Einzelheiten, so dem „Bedürfnisse“ nach Glück, also

einer Nützlichkeitseinstellung des Handelns, oder aus der „Ursachenerklärung“

z. B. vom Blitz und Donner, also einem Erkennen, oder aus einem „Gefühle“

(der Abhängigkeit), warum gerade aus dem „Gedanken“ und der „Ichfunktion“

durch eine nachträgliche „Synthese“ usw. entstanden sein? Für solche Ablei-

tungen wird sich nie eine ausreichende Begründung finden, da sie alle von den

späteren Geistesstufen, dem Denken, Wollen usw., also von dem Nachgeordneten

ausgehen, an dem sich das Religiöse aber in Wahrheit erst formt, erst vermittelt,

von dem es also schon vorausgesetzt wird.

Daß die richtige Gliederung des Wesens des übersinnlichen Bewußtseins zur

Erkenntnis seiner arteigenen Selbständigkeit führt, läßt sich unseres Erachtens

gerade an den tiefsten Begriffsbestimmungen des Glaubens, die wir besitzen,

erweisen. Knüpfen wir an Schleiermachers bekannten Begriff des Glaubens als

Gefühl der „Abhängigkeit schlechthin“ an, so ist zwar unrichtig, daß es sich um

ein „Gefühl“ im naturalistischen Sinne handle (und das ist von dieser Begriffs-

erklärung so ernst nicht einmal gemeint, mindestens schwankt Schleiermacher

1

);

dagegen richtig, daß es sich um einen Charakter, ein Bewußtseinsgepräge des

Enthaltenseins — und dieses ist / ja „Abhängigkeit“ — im Gesamtganzen eines

Höheren, Allbefassenden handle. Nicht ein Gefühl unter Gefühlen, wie z. B. die

Angst, tritt uns da entgegen, vielmehr die letzte grundsätzliche Äußerung unseres

Geistes, die aus seiner allgemeinsten Gliedhaftigkeit folgt.

III.

Die dritte Ausgliederungsstufe des Geistes:

Gezweiungsbewußtsein oder Liebe

Welten bauen genügt dem tiefer dringenden Sinn nicht:

Aber ein liebendes Herz sättigt den strebenden Geist.

(Novalis)

Die Kraft zu lieben ... ist der Zauber, der alles bezwingt.

(Tieck)

A . A l l g e m e i n e E r k l ä r u n g

Unoffenbarer Geistesgrund und übersinnliches Bewußtsein kön-

nen in sich selbst keine Bestimmtheit finden. Die erste Stufe, in

der der Geist eine in sich selbst bestimmte innere Erfahrung macht,

* S.

1

Vgl. Schleiermacher, z. B.: Reden über die Religion, Braunschweig 1879,

S. 283: „Vergeht also nie, daß die Grundanschauung einer Religion nichts sein

kann, als irgendeine Anschauung des Unendlichen im Endlichen . . . “

3*