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Hier sei nur auf einen Einwand, den man vielleicht aus dem Begriffe der
S e l b s t s e t z u n g im Fichtischen Sinne
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ableiten / könnte, eingegangen. Der
Satz „Das Ich setzt sich selbst“ scheint der Gegenseitigkeit, dem Werden anein-
ander, zu widersprechen. Nun ist es zwar richtig, was Fichte erörtert, daß näm-
lich die Verwirklichung alles geistigen Lebens des Ichs Selbstsetzung sei; aber
wir behaupten, daß diese Selbstsetzung nicht möglich sei ohne das andere Ich,
ohne das Mit-Dabeisein des anderen Geistes (was Fichte schon im „Naturrecht“
wußte, aber in der Wissenschaftslehre nicht begrifflich durchführt). Indem die
Gezweiung sich als „Selbstsein“ durch Sein im Andern kennzeichnet, ist schon
ausgedrückt, daß die eigene T ä t i g k e i t dem Ich keinesfalls abgenommen
werden könne. Es ist Grundtatsache der Gezweiung, daß kein anderer für uns
denken, gestalten, handeln, empfinden kann, sondern daß wir es sind, welche
dies t u n , s e t z e n müssen. Dieses Tun ist uns aber nur möglich durch Mit-
hilfe des andern Geistes, nur (sei es auch noch so vermittelt) miteinander. Die
einzige Grundtatsache, um die es sich in der Gezweiung handelt, ist, daß der
andere Geist zum Aufbau des eigenen Geistes unentbehrlich ist.
Darum ist die in der Gezweiung liegende Gegenseitigkeit keine bloß er-
wünschte, subjektiv geforderte Gemeinbürgschaft, keine sittliche „Solidarität“,
sondern eine T a t s a c h e d e s S e i n s , eine ontologische Wirklichkeit
2
.
Zu 3: G l i e d h a f t i g k e i t d e s e i n z e l n e n G e i s t e s .
Wenn kein Geist das, was er ist, von sich und für sich sein kann,
sondern stets mit dem anderen, so ist er damit G l i e d der
Gemeinschaft. Darum ist das Gezweiungsbewußtsein, rein sachlich
gesehen, mit der durchgängigen Gliedhaftigkeit des einzelnen Gei-
stes in der Gemeinschaft, zuletzt in der gesellschaftlich-geschichtli-
chen Gesamtheit bezeichnet.
In der Gliedhaftigkeit liegt zweierlei. Einerseits schließt sie, wie
sich soeben zeigte, die Eigentätigkeit, Selbstsetzung, mithin Selbst-
verantwortlichkeit des Einzelnen in sich ein, schließt die Ichheit
und Ichform des Geistes, daher auch seine Freiheit mit ein; ja sie
erfordert sie wesensgemäß, gibt aber allerdings dieser / Ichheit
und Selbständigkeit einen Rahmen: die höhere Ganzheit, die Ge-
meinschaft (zuletzt das Gesamtganze der geschichtlichen Gesell-
schaft). Andrerseits liegt in der Gliedhaftigkeit die Beschränkung
des Einzelnen, aber nicht eine äußerliche, fremde Beschränkung,
sondern eine solche, die zugleich Wesenserhöhung ist. Wir können
dies in dem Satze ausdrücken: G l i e d d e u t e t a u f G a n z -
1
Siehe unten S. 59.
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Vgl. die ausführliche Begründung in meiner Gesellschaftslehre, 3. Auf!.,
Leipzig 1930, S. 100 ff. und 113 ff. Vgl. auch: Der wahre Staat, 3. Aufl., Jena
1931, S. 26 ff., 33 ff., 68 ff. und 153 ff. [4. Aufl., Jena 1938, ebenda]; Gesell-
schaftsphilosophie, München 1928, S. 56 f. und 69 ff.