[36/37]
37
bietet. Dieser erweckte geistige Zustand des neugeborenen Menschen
ist auf den anderen Menschen hingeordnet. In diesem Sinne ist er
Liebe oder ein Abglanz davon.
Nichts anderes als Innigkeit vermag das Innere des Geistes zu
erwecken, nichts anderes als Liebe die gewaltige Tat eines An-
f a n g s d e s G e i s t e s zu bewirken.
Der genetische Gang des Geistes ist darum, das kann nicht nach-
drücklich genug wiederholt werden, nicht Aufnahme von Sinnes-
eindrücken, sondern Erwecktwerden in Gezweiung. Der / sensua-
listische Urirrtum, es wäre der sinnliche Eindruck, was den mensch-
lichen Geist zur Erweckung brächte, wird dadurch genährt, daß
auch Anlächeln und Koseworte durch Sinneseindrücke v e r m i t -
t e l t werden. Aber nicht der Farbeneindruck des Rot der mütter-
lichen Wangen, nicht der Schallreiz der Koseworte ist das Erwek-
kende; vielmehr etwas rein Geistiges, das in sich selbst U n m i t -
t e l b a r k e i t hat, in sich selbst eine arteigene innere Erfahrung
bildet: Geist wird des Geistes inne. In der Unmittelbarkeit, in der
das Kind das Lächeln der Mutter versteht (auch wenn es noch nicht
zu erwidern vermag), schießen Werdekräfte in Kind und Mutter
aneinander an. Hier herrscht nicht das Gesetz der Undurchdring-
lichkeit, sondern gegenseitiger Durchdringlichkeit.
Daß das Erlebnis der Gezweiung, wenn auch an sinnliche Vorbe-
dingung geknüpft, in sich u n m i t t e l b a r ist, bildet den Grund
dafür, daß es nicht weiter beschrieben werden kann. Gerade das
ist ein Wahrheitszeichen unseres Lehrbegriffes. Ähnlich wie man
dem Blinden „Rot“ nicht erklären kann, weil man auf die unmit-
telbare sinnliche Erfahrung zurückgehen muß, ähnlich könnte man
auch dem Ungezweiten, wenn es ihn gäbe, das Erlebnis des andern
Menschen, das Gemeinschaftserlebnis nicht erklären. In der Ge-
meinschaft, im Miteinander leuchtet Seele an Seele auf. Und dieses
Licht ist ursprünglich, nicht gebrochen, aus keiner andern Quelle
abgeleitet.
A.
N ä h e r e B e s t i m m u n g d e s G e z w e i u n g s -
b e w u ß t s e i n s
Als Bestimmungsgründe des Gezweiungsbewußtseins treten nun
die folgenden besonders hervor: