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mal im künstlerischen Gestalten, auch nicht im Handeln kann der
Mensch sich das Gemüt erbilden. Nichts kann dem Menschen das
volle Herz des Freundes ersetzen. In ihm allein lodert uns die
Flamme des Geistes entgegen. Nur in der Gezweiung werden die
strengen Fesseln des Ich gesprengt. Nur / in der Gezweiung kann
der Mensch zur Fülle des Herzens gelangen.
Verleiht Gezweiung allein Herz und Gemüt, dann ist auch sie
allein es, welche dem Menschen „Seele“ gibt, ihn, wie die Redensart
sagt, zu einem „seelenvollen Menschen“ macht. Die bisherige Seelen-
lehre ist dieser Grundtatsache der Erfahrung gegenüber hilflos
(denn welche „lustbetonten Reize“ oder welche „Komplexquali-
täten“ sollen Menschen gefühlvoll machen?). Erkennt man aber das
Wesen der Gezweiung und ihre Stellung im menschlichen Geiste,
dann ist der Herd des Gemütes und die Grundlage des seelenvollen
Menschen auch schon entdeckt. Nur Liebesinnigkeit verleiht Her-
zensfülle
1
.
C.
Von der S e t z u n g , A n n a h m e u n d
V e r a r b e i t u n g d e s G e z w e i u n g s b e w u ß t s e i n s
Es ist eine schwerere Aufgabe für den Menschen, zur Fülle des
Herzens zu gelangen als zum Schatze des Wissens. So leicht dem
Menschen jene anfängliche Gezweiung fällt, die dem Kinde zur
Geburt des Geistes nötig ist, so schwer und schier unerschwinglich
ist ihm das reine Mitgefühl, die tiefe Liebe, die durch Hingabe emp-
fängt. Das Genie des Herzens ist ebenso selten wie das Genie des
Wissens und der Kunst. Jeder Mensch wird gleichsam als ein
Elementargeist geboren, wie es Fouqué in seiner „Undine“ schil-
derte. Die schrittweise Ausbildung des Gezweiungsbewußtseins erst
befreit den Menschen von der dumpfen Enge des Selbstes, von seiner
ursprünglichen Natur als herzlosem Elementarwesen. Die Ausbil-
dung des Gezweiungsbewußtseins bedeutet nichts Geringeres als den
Weg von der Undine zum Menschen. In ihr vollzieht sich erst die
Schöpfung des Gemütes.
Viele Menschen bleiben zeit ihres Lebens nahe an der Naturstufe
der Undine stehen, verharren in elementarischer / Selbstsucht.
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Vgl. unten S. 52.