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schieht daher erst mit Hilfe der Geisteskräfte der nachfolgenden
Stufen, insbesondere des Wissens. Darum wird dieses Vorganges
erst später zu gedenken sein.
E. Von den E r s c h e i n u n g s f o r m e n d e s
G e z w e i u n g s b e w u ß t s e i n s . V o l l k o m m e n h e i t
u n d U n v o l l k o m m e n h e i t
Wir haben bereits Liebe, Neigung, Freundschaft, Zutrauen, Wohl-
wollen als Formen des Gezweiungsbewußtseins genannt. In Wahr-
heit ist hier eine fast unerschöpfliche Mannigfaltigkeit vorhanden,
und zwar je nach der Verbindung mit anderen Bewußtseinsstufen.
Die Verbindung des geistigen Gezweiungsbewußtseins mit den
geschlechtlich-sinnlichen Trieben und Empfindungen schafft die
G e s c h l e c h t s l i e b e . Auf den sinnlichen Trieb allein be-
schränkt, wirkt sie bald leer, ja zerstörend; wenn sie aber mit echter
geistiger Gezweiung, mit Innigkeit des Herzens verbunden ist, regt
sie die tiefsten Tiefen des menschlichen Wesens auf und bringt
Kräfte an den Tag, die zuvor nicht geahnt wurden. In den Gestalten
von Romeo und Julia, von Tristan und Isolde, Eduard und Ottilie
(der „Wahlverwandtschaften“), Heinrich und Mathilde (des „Hein-
rich von Ofterdingen“ Novalis’) werden uns Beispiele solcher Um-
wandlungen gegeben.
Wie bei der Geschlechtsliebe, so zeigt sich überall die Notwendig-
keit, neben den wesensgemäßen, vollkommenen Erscheinungen
auch die unvollkommenen, wesenswidrigen ins Auge zu fassen. Wir
deuten das Bild, das sich hier der Untersuchung ergäbe, mit folgen-
den Bemerkungen an, ohne uns auf eine erschöpfende Darstellung
einzulassen.
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1.
Die unvollkommenen Formen (Fehlausgliederungen)
Aus dem Begriffe der Gezweiung ergibt sich, daß die vollkomme-
nen Formen solche f r u c h t b a r e r E i n g l i e d e r u n g und
daher wesensgemäßer Geistesentfaltung sind, die unvollkommenen
solche der E n t g l i e d e r u n g und daher wesenswidriger Ent-
faltung, zuletzt geistiger Schrumpfung.