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Opfers, wenn auch durch gerechten Schmerz geadelt. Anders der
„Menschenfeind“ in Raimunds „Alpenkönig und Menschenfeind“,
dessen Haß nicht aus enttäuschter Liebe, sondern von Anbeginn aus
elementarer Selbstsucht, gepaart mit allgemeiner düsterer Seelen-
stimmung und allgemeiner Verdrossenheit, entspringt (ähnlich auch
Molières „Misanthrop“). Daher hier nicht nur die Gezweiungs-,
sondern auch die Temperamentenlehre hineinspielt. Zur Heilung
empfiehlt Raimund in diesem seinem genialsten Stücke, sich selbst
wie eine fremde Person zu beobachten.
Unter das Gezweiungsbewußtsein gehören auch viele Erschei-
nungen, die man mangels einer anderen Möglichkeit fälschlich dem
„Willen“ zuzurechnen pflegt. Es sind dies namentlich H ö f l i c h -
k e i t , F r e u n d l i c h k e i t , f o r m e l l r i c h t i g e s B e n e h -
m e n , S a n f t h e i t , M i l d e , S e l b s t b e h e r r s c h u n g im
Verkehr mit anderen Menschen. Diesen Vollkommenheitsformen / des
Gezweiungsbewußtseins stehen als Entsprechungen die Mißfor-
men gegenüber: U n h ö f l i c h k e i t , T a d e l , b ö s e M i e n e n
u n d G e b ä r d e n , b ö s e W o r t e , S c h e l t e n , S i c h g e -
h e n l a s s e n , U n b e h e r r s c h t h e i t , H e f t i g k e i t , Z o r n .
Allerdings ist es richtig, daß bei allen diesen Bewußtseinsformen
auch die Willenskraft, nämlich der Wille zu stetiger innerer Hal-
tung, mitspielt. Wenn man aber sagt, daß jene Bewußtseinszustände
Willenssache wären, daß sie der Willenserziehung angehörten und
demnach durch Selbstbeherrschung die Willenskraft gestärkt, durch
Sichgehenlassen,
Unbeherrschtheit,
Zornausbrüche
geschwächt
werde, so ist das nur zum geringsten Teile wahr. Das beweist unter
anderen das Beispiel Napoleons, der es bekanntlich wohl öfters an
Selbstbeherrschung und gutem Benehmen fehlen ließ, aber keines-
wegs je an Willensstärke. Das beweisen auch die „ B u s c h i d o “
genannten Lebensregeln in Japan (welche Höflichkeit, Form, Selbst-
beherrschung strengstens fordern). „Buschido“ läuft unseres Erach-
tens keineswegs auf eine Schule des Willens hinaus, sondern soll den
ganzen Menschen erziehen und seine Selbstsucht brechen. Die
wesentlichste Seite der Sache ist, daß die höfliche, formelle, be-
herrschte Weise des Lebens e i n g l i e d e r n d e u n d G e z w e i -
u n g a u s b i l d e n d e B e d e u t u n g hat, daß sie daher das
gesamte Innenleben, das Gemüt des Menschen, stärkt (damit aller-
dings auch die Grundlage für alle nachfolgenden Geistesstufen stärkt,