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2. Die Vollkommenheitsformen
Die Vollkommenheitsformen der Gezweiung haben ihr Maß
überall in fruchtbarer Eingliederung. Umfassende Eingliederungs-
fähigkeit, das ist allgemeine L i e b e s k r a f t, ist daher die /
grundsätzliche Vollkommenheitsform des Gezweiungsbewußtseins.
Von ihr leiten sich alle anderen ab. S e h n s u c h t , L i e b e s -
b e d ü r f t i g k e i t , Liebesbereitschaft sind die mehr erleidenden
Formen der allgemeinen Liebeskraft; L i e b e s e r w e c k u n g ,
L i e b e s v e r s c h w e n d u n g , L i e b e s b e z e u g u n g , L i e -
b e s b e l e h r u n g , L i e b e s f ü r s o r g e die tätigen Formen.
Je tätiger, schöpferischer die Stellung eines Menschen in der Ge-
zweiung, umso führender. Je führender, umso mehr muß der
Träger dieser Führerstellung mit dem objektiven Geiste der Ge-
meinschaft, der ein allgemeiner, übereinzelner ist, erfüllt sein.
„W e r d e a l l g e m e i n“, ist daher das Gesetz der geistigen Füh-
rung. — Darum hilft auch guter Wille, ja Neigung, wenig zur Auf-
rechterhaltung der Gemeinschaft. Geistiges Mitgehen, Teilnahme
am gemeinsamen Geistesinhalte der Freundschaft ist nötig!
Dem Neide, der Eifersucht, auch der Kargheit und Kleinlichkeit
sind G r o ß h e r z i g k e i t u n d E d e l m u t als Gegenzüge, als
Gegenvollkommenheiten des Gezweiungsbewußtseins entgegenzu-
stellen. (Als Gegenvollkommenheiten, denn bei allseitiger Voll-
kommenheit und Makellosigkeit der Gezweiungsvorgänge brauchte
die Großherzigkeit gar nicht angerufen zu werden.) Großherzigkeit
und Edelmut sind durch die seltene Kraft bezeichnet, auf Rache zu
verzichten. Sie gründen nicht nur in allgemeiner S e l b s t l o s i g -
k e i t , die ja allein Eitelkeit, Neid, Rache, Unverträglichkeit über-
winden kann, sondern auch in Z a r t h e i t d e s M i t f r e u e n s
u n d M i t l e i d e n s . Mit Recht wurden sie von Mozart am
Schlusse der „Entführung“ („Wer solche Huld vergessen kann“) und
in der „Zauberflöte“ („In diesen heiligen Hallen“) hoch gefeiert. —
Z a r t g e f ü h l in der Gezweiung (sogenannter „Takt“) und v o r -
n e h m e G e s i n n u n g sind nichts anderes als Sonderformen
von Großherzigkeit und Edelmut
1
. Dagegen sind N a c h s i c h t
1
Auch Platon behandelt die G r o ß z ü g i g k e i t
(
μεγαλοπρέπεια
)
als
eine grundsätzliche Vollkommenheit. So im Staat 402c, 486a; Menon 88a.