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von Komplexen („Komplexqualitäten“), hieße, das Sonnenlicht aus
der Luft erklären, die es erhellt. Woher soll aber die bisherige
Seelenlehre mit ihren armseligen Begriffsmitteln die Liebe erklären?
Hier zeigt sich, daß jeder Geisteslehre, die das Du erst „erschlossen“
sein läßt, statt es dem einzelnen Geiste ursprünglich, unmittelbar
zuzusprechen, Innigkeit, Gemüt, Liebe ein Rätsel bleiben müssen.
Weder gibt die „ernährende, empfindende und erkennende Seele“ der aristo-
telischen Einteilung, noch die ebenfalls aristotelische Einteilung in Erkenntnis
und Wille, noch jene seit Kant herrschende in Erkenntnis, Gefühl und Wille,
am allerwenigsten aber die streng sensualistische Einteilung, die alles auf umge-
wandelte Sinneseindrücke mit Lust- und Unlustbetonungen zurückführt, eine Mög-
lichkeit, zum Begriffe des Gemütes zu gelangen. Geistige Liebe und Freundschaft
kann für alle diese Einteilungen nur als Komplex von „Lustgefühlen“ an dem
Andern (oder als „Qualität des Komplexes“) erklärt werden, daher hauptsächlich
Trieb, Nützlichkeit, Vorteile zu dieser Liebe angeblich „hinaufsublimiert“ wer-
den müssen. Aber damit ist gerade das Innerste der Liebe, welches Hingebung
und eine ursprüngliche, dem Menschen wesensnotwendige Erscheinung ist, ver-
fehlt. Liebe sucht sich selber nicht. Das verlangt ihre Natur, ihr Wesen. Aber
weder aus der sensualistischen Assoziationsmechanik noch aus irgendeiner Rich-
tung von heute läßt sich Hingebung systemgemäß erklären, darum denn auch
der „Altruismus“ das Kreuz der alten Seelenlehre ist. Er muß schmählicherweise
auf versteckten Eigennutz zurückgeführt werden. / Die Gezweiung hingegen erklärt
die Hingabe aus der in ihr liegenden Gegenseitigkeit. Das Hingebende und den
Einzelnen Transzendierende erweist sich als tiefstes S a c h e r f o r d e r n i s der
Gezweiung selbst und muß daher auch in ihrem Bewußtsein, der Liebe, zur
Erscheinung kommen.
Es ist das größte Armutszeugnis für die bisherige Seelenlehre, daß in ihr die
Liebe nach ihrer wahren Bedeutung für das innere Leben des Menschen nicht
zur Geltung kommt. Dieser Umstand allein müßte schon genügen, zu einer grund-
sätzlichen Überprüfung ihrer Verfahren und philosophischen Grundlagen auf-
zufordern. Die Wesenserklärung des Gezweiungsbewußtseins, die sich dagegen
aus unserem Lehrbegriffe der Ausgliederungsordnung ergibt, sowie der hohe
Rang, den es als erste in sich konkretisierbare Stufe des Geistes einnimmt, macht
die Natur und die grundlegende Stellung desselben im gesamten inneren Leben
des Menschen von selbst erkenntlich.
IV.
Die vierte Ausgliederungsstufe des Geistes:
das auf Eingebung beruhende Bewußtsein
In der Eingebung und den aus ihr hervorgehenden Bewußtseins-
erscheinungen zeigt sich der menschliche Geist auf einer Höhe, die
ihn von allen anderen Wesen unterscheidet. Die Eingebung ent-
faltet sich als Wissen und sodann als Kunst.